Was heißt 'rational'?
Michael Seibel • Einige Hauptprobleme beim Versuch, sich auf gemeinsame Verfahren des Begründens zu einigen (Last Update: 03.06.2021)
Drei nicht gerade unproblematische philosophische Grundüberzeugungen greifen in der Geistesgeschichte und heute immer noch unübersehbar ineinander und prägen das Verständnis dessen mit, was als rational gelten soll,
a) die Behauptung einer Sein-Sollens-Schranke in der Ethik, die letztlich am Leib-Seele-Dualismus festhält, bei der es nicht einmal darum geht, die alte Vorstellung vom Sollen und von der Unsterblichkeit der Seele zu retten. Was gerettet werden soll, ist vielmehr eine bestimmte Vorstellung vom Sein und ein monolitischer Wahrheitsbegriff,
b) die noch deutlich entschiedenere Ablehnung jedes erkenntnistheoretischen Relativismus, der nicht nur das Gute, sondern am Ende auch Wahrheit als sozial verhandelbar denkt,
c) eine geradezu paranoide Fragmentierungsangst in der Erkenntnistheorie, die selbst unter den meisten eingefleischten Empiristen – und unter den Philosophen, die sich eher rationalistischen Richtungen zurechnen würden ohnehin – zur unkritischen Verabsolutierung des Einheitsdenkens und eines fanatischen Beharrens auf Gewissheit (statt Schönheit) in der Erkenntnistheorie führt.
Für die Frage der
Geheimnisstruktur, der wir seit einiger Zeit nachzugehen versuchen,
heißt das, dass es heute für kaum jemanden denkbar ist,
dass zwei einander ausgesprochen formfremde Verfahren des Begründens,
wie Geheimnisstruktur und naturwissenschaftlichen
Modellbildungsverfahren es sind, heute so selbstverständlich
ineinandergreifen wie Mykobionten und Photobionten bei einer Flechte,
um im gleichen sozialen Netzwerk zu bestimmen, was als real gilt. Was
sich nach wie vor schwer vorstellen lässt, ist, dass
Rationalisierung eben nicht nur inhaltlich, sondern auch formal kein
einheitliches Geschehen sein muss.
Schauen wir auf die Vorgeschichte all dieser Schwierigkeiten. Der lateinische Begriff ratio wird im Deutschen üblicherweise mit Grund, englisch mit reason, französisch mit raison übersetzt.
Er bezieht sich auf die Möglichkeit, Verfahren des Begründens anzuwenden. Das setzt, sollte man meinen, eine Diskursgemeinschaft in einer sozialen Welt voraus, die warum auch immer überhaupt regelmäßig Begründungen verlangt. Begründungen sind diskursive Gebilde. Und man unterscheidet üblicherweise, soweit ist man sich noch einig, zwei Versionen wohl gemerkt einer einzigen Rationalität, theoretische und praktische. Jemandem, der in der Lage ist, ein Urteil rational zu begründen, unterstellt man im allgemeinen, dass er den Sachverhalt verstanden hat, um den es geht. Die Zuhörerschaft entscheidet zumindest mit, ob eine Argumentation rational ist oder nicht.
Hermeneutik: Wie beweist man Verstehen?
Der mit dem Begriff der Rationalität eng verwandte Begriff 'Verstehen' hat innerhalb der Philosophie die Tradition der Hermeneutik durchlaufen und dort seine Bedeutung erhalten. Etwas verstehen heißt demnach, eine Rede oder einen Text verstehen, wobei davon ausgegangen wird, dass es sich um eine schwer zu verstehende Rede handelt, sei es, dass die Sprache fremd ist oder der Sinngehalt besonders anspruchsvoll. Der Gott Hermes, einer der zwölf großen Olympier, war bekanntlich der Überbringer der göttlichen Botschaften, der Todesnachrichten, der Schicksalsmitteiler. Als Hermes Trismegistos (Ἑρμῆς Τρισμέγιστος) war er der sagenhafte Verfasser magischer und alchemistischer Schriften. Alles schwer zu verstehendes, hermetisches Zeug.
'Verstehen' hat es regelmäßig mit Reden und Texten zu tun. (Aber nicht nur mit Rede und Text, wie wir unten in Ricks Cafe American vorgeführt bekommen.) Wenn ich auf italienisch gefragt würde: „Vuoi formaggio o salsiccia?” und mir stünde der Sinn nach Wurst, dann wäre es gut zu antworten: „Salsiccia per favore.” Wenn dann Wurst käme, wäre ich mir ziemlich sicher, verstanden zu haben, worum es ging. Es tritt dann, - musikalisch ausgedrückt, - so etwas ein wie eine Generalpause, ein Moment umfassender Stille, ein Moment, der zu allem möglichen werden kann, im Fall der Wurst zu einem Genußmoment, aber auch zu einem Heureka. Diese Pause wird meistens dazu genutzt, dass ich meine Aufmerksamkeit von diesem Thema abziehen kann, weil es erledigt ist.
Solch ein Verstehensbeweis ist ziemlich unschlagbar, nur leider ist er durchaus nicht regelmäßig erreichbar. Und genau dann fängt die Hermeneutik an.
Martin Heidegger hat das Verstehen als fundamentales ›Existenzial‹ betrachtet, das das menschliche Dasein wesentlich mit ausmache. Und laut H.-G. Gadamer unterliegt jedes Verstehen den Bedingungen der Geschichtlichkeit und der Sprachlichkeit. Jedes Verstehen setzt, so meint er, eine Wirkung dessen voraus, was verstanden werden soll. Insofern ist jedes Verstehen ein wirkungsgeschichtlicher Vorgang. Dadurch, und dass wir überhaupt etwas verstehen, sind wir „eingerückt in ein Überlieferungsgeschehen“, ob es nun um Würste geht oder um hermetische Alchemistentexte oder um moderne Physikbücher.
Wenn ich heute als physikalischer Laie das ganz ausgezeichnete populärwissenschaftliche Buch von Josef M. Gassner lese, das mich entlang der Meilensteine der Physik von Aristoteles zur Stringtheorie führt, so treffe ich auf den Buchtitel „Können wir die Welt verstehen?“
Hermeneutiker haben ein paar Jahrzehnte lang versucht, die beiden Begriffe Verstehen und Erklären auseinanderzuhalten und das Verstehen den Geisteswissenschaften vorzubehalten und das Erklären zur Domäne der Naturwissenschaften zu machen. (W. Dilthey: »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir«. Das dürfte sich überholt haben. Beides, das Verstehen und das Erklären, findet sich in einem Dritten wieder, im Begründen. Damit fragt sich, wie 'die Welt' oder Partikel von ihr oder von etwas anderem als der Welt, sagen wir von der Wurst, in die Texte kommt. Bei der Wurst ist das relativ leicht zu beantworten: sie wird unter anderem als Rezept zu Text, den man, das muss man nicht extra sagen, natürlich nicht essen kann. Die Welt sicher nicht. Gedichte lassen sich jedoch über beides schreiben, über Wurst und Welt.
Jedenfalls würde wohl niemand, der Gassners Buch intensiv gelesen und durchgearbeitet hat, am Ende ernsthaft behaupten wollen, er habe nunmehr 'die Welt verstanden'. Darauf zu bestehen, dass man sie selbstverständlich nunmehr verstanden habe, ist ebenso völlig hypertroph wie die gerade gegenteilige Schockstarre eines nächtlichen Flaneurs, der um 23:59h am Restaurant seiner Wahl vor verschlossener Tür mit der Aufschrift steht: „Öffnungszeiten bis 24:00“ und verstört ausruft: „Jetzt versteh ich die Welt nicht mehr. Sie haben zu!“
Dagegen, dass Begründungen immer eine Sache von Diskursgemeinschaften sind, könnte man einwenden, dass auch bereits eine persönliche Entscheidung, etwas auf eine bestimmte Art und Weise zu tun und nicht anders, so etwas wie eine Begründung sich selbst gegenüber erfordert und dass damit Begründungen nicht zwingend einen Diskurs und eine soziale Vielheit von Diskursteilnehmern voraussetzten. Rationale Entscheidungen hätten sich dann einfach am persönlichen Kenntnisstand zu messen. Man muss einfach die überzeugendste Handlungsvariante wählen, an die wir uns erinnern können, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Und wir müssen nicht einmal zwingend explizit reflektieren, was sie überzeugend macht. Die Warum-Frage wäre damit bereits in so manche, möglicherweise in jede praktische Entscheidung wenn auch 'ungründlich' eingebaut. Sich für eine bestimmte Vorgehensweise zu entscheiden hieße bereits, sich selbst eine Warum-Frage zu beantworten. Nun treffen wir die vielfältigsten Entscheidungen, ohne überhaupt gute Gründe dafür angeben zu können, z.B. viele der Wahlentscheidungen, die wir ohne vollständige Information treffen bis hin zu reinen Wetten, bei denen wir für unsere konkrete Wahl keinerlei gute Gründe mehr haben und das sogar wissen. Vielleicht ist ja das irrational. Aber Vorsicht, mit dem Zufall lässt sich ganz ausgezeichnet rational umgehen. Die Frage ist, ob sich Entscheidungen, die wir gegenüber uns selbst begründen, bei näherer Hinsicht wirklich einerseits gut gegen unvollständig informierte Entscheidungen einerseits und andererseits gegen Entscheidungen abgrenzen lassen, bei denen Andere uns nach unseren Gründen fragen. Wir würden dann andere statt uns selbst überzeugen müssen und müssten ihnen überlassen zu beurteilen, ob wir rational entscheiden oder nicht. Offenbar gibt es kaum Entscheidungen, die nicht von vornherein sozialer Natur sind. Das heißt wiederum nicht, dass andere sie treffen oder dass wir selbst sie nicht frei treffen. Man wird eine klare Trennung zwischen freien Entscheidungen und Entscheidungen mit einem sozialen Hintergrund nicht treffen können.
Was wären im Gegenteil irrationale Entscheidungen? Lässt sich das wenigstens sagen? Offenbar Entscheidungen ohne guten Grund. Aber lässt sich allgemein definieren, was ein guter Grund ist und was nicht? Hängt das nicht davon ab, mit wem man spricht und worüber? Oder wären das Entscheidungen, die aus bestimmten Gefühlslagen heraus getroffen werden, statt aufgrund sachlicher Erwägungen? Kann es nicht gerade auch um Gefühlslagen gehen, und können Gefühlslagen nicht sogar manchmal sehr gute Gründe abgeben? Gründe, die praktisch jedermann versteht? Ein Mann hat ein Geschenk gekauft, weil seine Frau Geburtstag hat. Ist das rational? Ist das wohlbegründet? Es hat ihm einfach Spaß gemacht. Es war eine Spontanentscheidung. Nein, war es nicht. Er hat ein bewährtes Verfahren angewendet. Er hat sie gefragt, was sie sich wünscht. Wird es dadurch rationaler? Er hat einen Zweck damit verfolgt. Er wollte ihr eine Freude machen. Alles in unserem Kulturkreis äußerst nachvollziehbar.
Kann man auch rational fühlen?
Der Filmheld Rick (Humphrey Bogart) leitet im Film Casablanca von 1942 den von Exilanten, einheimischer Obrigkeit und deutschen Offizieren gut besuchten Club Ricks Cafe. Wenn man nach einem geradezu archetypischen Beispiel für eine freie Entscheidung sucht, kann man es in der Szene finden, in der mitten im voll besetzten Cafe ein Trupp deutscher Offiziere lautstark die Wacht am Rhein anstimmt. Jeder in Ricks Cafe, der nicht deutsch ist, verstummt voller Scham. Es tritt auf der von den Nazis gesuchte Widerstandskämpfer Victor László, der das Tanzorchester des Clubs energisch auffordert, die Marseillaise zu intonieren und die Deutschen zum Verstummen zu bringen. Alle Musiker blicken zu Nick um sich zu vergewissern, was ihr Chef gestattet. Den Ausschlag, was jetzt passiert, gibt sein nur leicht angedeutetes Kopfnicken. Wer Augen hat zu sehen, dem wird es zum Ausdruck einer geradezu archetypischen freien Entscheidung. Jeder weiß ab jetzt, auf welcher Seite Nick steht. Er hat sich entschieden. Frei! Was nun kausal (?) daraus folgt ist, dass das Orchester die Hymne spielt und dass die eben noch stummen Zuschauer ihren Emotionen freien Lauf lassen. Grund und Folge … das philosophische Urverhältnis. Hier wird es uns gezeigt.
Hier der Filmausschnitt:
Quelle: Youtube
Ist die Entscheidung frei? Ist sie rational? Oder beides? Wenn ja, warum eigentlich? Wenn nein, warum eigentlich nicht? Weil offenbar ein Gefühl ihre Grundlage ist. Oder vielleicht hat dieser Rick gerade wegen dieses Gefühls nächtelang schlecht geschlafen, sich im Bett hin und her gewälzt und alle erdenklichen Momente tausendfach überlegt. Vielleicht ist ja dieses Gefühl, ohne dadurch irgendetwas von seiner Spontaneität zu verlieren, der best überlegte Sachverhalt in Ricks Leben. Epstein und Koch müssten es wissen. Sie sind die Drehbuchautoren des Films. Oder Murray Burnett und Joan Alison, die 1940 das Theaterstück geschrieben haben, das dem Film als stoffliche Vorlage diente, oder Curtiz, der Regisseur, der diese Andeutung eines Nickens ins Bild gesetzt hat. Oder wissen wir deshalb nicht, ob Ricks Entscheidung rational ist, weil weder Nick, noch Curtiz, noch Burnett oder Alison, noch Koch oder die Epsteins Ricks Kriterien zur Diskussion gestellt haben? Natürlich hätte Rick seine Gründe auch sprachlich begründen können, aber was hätte das mit dem Film gemacht! Wie hat man sich die Diskussionen vorzustellen, die möglicherweise bei Warner Brothers über die Szene geführt wurden? Es ist anzunehmen, dass Curtiz sehr gut verargumentieren konnte, warum er die Szene so und nicht anders macht? War das nicht äußerst rational, mit einer entsprechenden Wirkung zu rechnen? Das wäre nicht das erste Mal, dass ästhetische Argumente grundlegend für Rationalität sind. (Unten werden wir einigen weiteren solcher Fälle begegnen.)
Aber stellt nicht die Szene selbst alles offen aus, was nötig ist, um die Entscheidung zu verstehen?
Es ist bei näherer Hinsicht außer bei so trivialen Entscheidungen wie der, einen Schirm mitzunehmen, weil es draußen regnet, so gut wie nie der persönliche Augenschein, der die Begründungen für was auch immer liefert, obwohl oft genug in Gesellschaft über das Wetter von gestern und morgen geredet wird.
In einigen Diskursen, ganz und gar nicht in allen oder den meisten, werden Begründungen verlangt. Es wird also davon ausgegangen, dass es begründungsbedürftige Sachverhalte gibt und dass keineswegs jede Äußerung als Begründung akzeptiert wird. Rational wären demnach in erster Annäherung Äußerungen welcher Art auch immer, die nach entsprechender Prüfung ihre Geltung innerhalb solcher Verfahren haben. Was für Verfahren das sind und welche Art von Prüfungen angesetzt werden, lässt sich durchaus nicht a priori entscheiden. Ein Verfahren haben wir ja gerade vorgestellt: frag deinen Partner, was er sich wünscht, bevor du ihm etwas schenkst! Und: Wenn du eine Wurst bestellst und eine Wurst bekommst, dann hat dich dein Wurstverkäufer verstanden. Das ist eine mögliche Verbindung von Rationalität und Verstehen. An dieser Verbindung ist nichts auszusetzen außer ihrer kaum zu unterbietenden Begrenztheit.
Ob in der Antike oder heute, Rationalität setzt voraus, dass überhaupt Begründungen verlangt werden. Wenn Philosophie seit jeher mit Liebe zur Weisheit übersetzt wird, so klingt darin eben diese vorausgesetzte, aber nie völlig zu befriedigende und zur Ruhe gekommene Begründungsbedürftigkeit an und genau darin und zugleich die Bereitschaft des Philosophen, sich offensiv auf Begründungen einzulassen.
Das wiederum setzt Diskurse voraus. Das ist immer ein symbolisches Geschehen in sozialen Netzwerken. Das sagt zugleich aber auch, dass Diskursteilnehmer nur sein kann, wer eine Vielzahl von Voraussetzungen erfüllt, die in dem besonderen sozialen Netz gelten, in dem er eine Begründung geltend machen will.
Das ist ein extrem weit gefasster Verständnisrahmen der möglichen Bedeutung von rational.
Wir verzichten nämlich damit darauf, vorauszusetzten, dass es letztlich nur eine einzige Rationalität geben kann, auf die alles Denken zustrebt. Falls es so ist und es wirklich letztlich nur eine einzige Rationalität geben sollte – und das ist die Mehrheitsmeinung unter Philosophen – , müssten man uns dafür überzeugende Gründe liefern. Heute vertritt etwa Marcus Gabriel die Position, dass das Denken eine sinnliche Angelegenheit ist, ja geradezu ein Sinn wie die fünf Sinne, die schon Aristoteles benennt. Für diese Ansicht spricht viel. Ich meine auch, dass wir nicht denken und also sind, sondern dass wir sind, was wir sind und deshalb denken. Aber dass das Denken ein integraler Bestandteil unserer Leiblichkeit ist, erlaubt noch lange nicht, es als einen Sinn wie Hören oder Sehen zu deuten. Denn das Hören und das Sehen ereignet sich zumindest, was die Organe betrifft, jeweils auf eine ganz bestimmte Weise und fällt aus, wenn diese Weise ausfällt. Möglicherweise kann man die Gehirntätigkeit so beschreiben, aber nicht das Denken. Ich sehe nicht, warum das Denken an eine ganz bestimmte Weise gebunden sein sollte, wie es zu Vorstellungen und Begriffen kommt. Ich erlebe es ganz im Gegenteil als eine äußerst kreative Tätigkeit, gerade auch in den Wegen, die es geht und den Methoden, mit denen es zu Ergebnissen kommt. Und das unabhängig davon, wie es organisch als Hirntätigkeit beschaffen ist. Diese Ungebundenheit ist ja gerade das, was das Verhältnis von Hirn und Geist so interessant macht und den Geist leistungsfähiger als jeden uns bekannten Algorithmus.
Aber auch ohne einen Blick auf das leibliche Fundament haben in der Tat Philosophen zu allen Zeiten behauptet, genau Gründe für Einheit und im Grunde für Gleichförmigkeit des Denkens angeben zu können. Die europäische Philosophietradition zieht den Verständnisrahmen der möglichen Bedeutung von rational also enger als wir. Für Kant oder Hegel etwa ist es Sache der Philosophie zu definieren, was als Wissen gelten kann und was nicht.
»Worauf ich überhaupt in meinen philosophischen Bemühungen hingearbeitet habe und hinarbeite, ist die wissenschaftliche Erkenntnis der Wahrheit«1.
In der Phänomenologie des Geistes heißt es bei Hegel:
»Das Bekannte überhaupt ist, darum daß es bekannt ist, nicht erkannt«2.
Francis Bacon, der Vater des Empirismus, widerspricht da nicht im geringsten. Auch für ihn kann nur methodisch gewonnene und dann logisch geordnete Erfahrung Wissenschaft sein und nicht schon irgendwelche unbestimmten und zufälligen Sinneseindrücke. Wissenschaft muss systematisch arbeiten, nach vernünftig begründbaren Methoden, und dies gilt nicht nur für die Tatsachenfeststellungen, sondern auch für deren Systematisierung durch kontrollierte Verallgemeinerung. Dementsprechend kann es Rationalität eigentlich nicht im Plural geben.
Oder heißt das vielmehr zunächst nur, dass es Rationalität nicht im Plural zu ein und derselben Zeit in ein und demselben sozialen Netzwerk zu ein und demselben Thema geben kann? Kann man sich nicht vorstellen, dass es ganz unterschiedliches wohlüberlegtes methodisches Vorgehen zu unterschiedlichen Themen zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Netzwerken geben kann? Sogar geben muss?
Was es schwierig macht, sich eine solche Pluralität vorzustellen, ist unter anderem die rasante Entwicklung der Mathematik, die sich auf dem axiomatisch offensichtlich sehr einheitlichen methodischen Feld abspielt, das auf der Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre aufsetzt und sich unabsehbar immer weiter ausdehnt und alles einzunehmen und beschreibbar zu machen scheint, was nur irgendwie quantifizierbar ist. Was sollte sich mit den Mitteln der Mathematik, der vermeintlichen Sprache Gottes, nicht ordnen lassen? Wozu also Methodenvielfalt? Müssten nicht zwingend, was wie Vielfalt aussieht, einfach nur Varianten ein und der selben Weise des Ordnens sein? Eigenartigerweise ist die Vorstellung eines Ganzen im Sinne eines Gesamtumfangs der Mathematik nicht möglich, weil völlig unabsehbar ist, in welche Komplikationen sie sich ausgehend von ihren axiomatischen Anfängen in Zukunft noch versteigen wird. Sie erlaubt nicht die Ganzheitsvorstellung in ähnlicher Weise heranzuziehen, wie das den meisten von uns bei der Vorstellung eines Weltganzen völlig geläufig ist.
Bei allem modernen Rationalitätsmonismus würde dennoch kaum jemand leugnen, dass es völlig andere Voraussetzungen zu erfüllen gilt, wenn man bei einem Diskurs eines melanesischen indigenen Volkes von Waldnomaden ein gewichtiges Wort mitreden möchte, als Mönch des Benediktinerordens im 7. Jahrhundert, als Königsberger Philosoph im ausgehenden 18. Jahrhundert oder als theoretischer Physiker oder Molekularbiologe im 21. Jahrhundert. Aber immer scheint es uns, als gehe der Weg nach vorn, immer nach vorn und nie zurück, von Newton zur Relativitätstheorie. Und von der Relativitätstheorie zur großen vereinigten Theorie? Altes wird nicht falsch, sondern nur immer weiter ausdifferenziert. Neue Geltungsfelder werden dazugewonnen. Dahinter steht die Vorstellung von der einen Welt, die sich nicht verändert, während der Geist dazulernt.
Aus Sicht des religiösen Denkens sieht die Sache mit dem unaufhaltsamen Fortschritt anders aus. Immerhin nahm man vormodern für sich in Anspruch, mit den Wissenschaften im Gleichklang zu sein. Die Moderne und deren Fortschrittsvorstellung drohen mit Gottesverlust. Der französische Mathematiker Pierre-Simon Laplace bemerkte auf die Frage von Napoleon, wo denn in seinem Modell über die Natur Gott geblieben sei: „Bürger und Erster Konsul, ich habe dieser Hypothese nicht bedurft.“
Man neigt auch heute zu der Ansicht, dass es so etwas wie eine Wahrheit gibt, der man sich sukzessive annähern könne, und dass der heutige Mikrobiologe möglicherweise dieser Wahrheit ein Stück näher gekommen sei als der Waldnomade. Denken bleibt Fortschrittsdenken, und die Technikentwicklungen werden als Beweis dafür gesehen. Mit Penicillin ist bei weitem mehr gewonnen als damit, seine Entdeckung einen Fortschritt zu nennen. Das erste ist ein Medikament, das zweite eine Ideologie. Damit ist wenig gewonnen. Andere behaupten im Gegenteil, dass die Waldnomaden weit mehr Berührung mit dem wirklich Wesentlichen hatten als wir heutigen. Damit ist auch nichts gewonnen. Interessant werden solche Deutungen erst da, wo Begründungsfragen spezifisch werden. Wenn die Frage im Raum steht, wie eine Krebserkrankung zu bekämpfen ist, macht es in der Tat mehr als nur narzisstischen oder ideologischen Sinn, von einem Fortschritt zu sprechen, der sukzessiv durch die moderne Medizin erreicht wird. Wenn es um ein vertieftes Alltagswissen und um die Breite der Erfahrung mit der umgebenden Natur geht, dürfte der Waldnomade klar im Vorteil sein und der Weg seitdem mit einigem Recht als ein Rückschritt erscheinen.
Ein Fortschrittsgedanke taugt nicht unbedingt viel, um zu entscheiden, was als rational gelten darf und was nicht.
Rationalität ist Wohlbegründetheit. In der Philosophie der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit wird das Thema unter den Begriffen Verstand (nous, intellectus) und Vernunft (logos, ratio) behandelt. Vielgestaltig.
Rund um die Frage der Wohlbegründetheit finde ich drei philosophische Mehrheitsmeinungen wenig überzeugend. Die eine ist die sogenannte Sein-Sollens-Dichotomie und die andere betrifft den Gedanken der Einheit der Welt. Die dritte Schwachstelle: nicht, dass ich meine, wahre Erkenntnis sei sozial verhandelbar, … aber! Was macht uns eigentlich so sicher, dass sie das nicht ist? Wir tun es dauernd. Wir verhandeln sie und nennen es z.B. 'peer review'. Was sonst sollten wir tun? Bei jedem Experiment und jeder Entdeckung dabei sein? Wie das?
Selbst wenn, woran selbstverständlich auch ich glaube, bei peer reviews auf vielförmige Weise auf einen Kern aus härtester Faktizität Bezug genommen wird, auf etwas, was keine Sache des Meinens mehr sein darf, ist doch die gedankliche Erreichbarkeit dieses Kerns für den common sense ganz und gar eine Sache des gesellschaftlichen Aushandelns, nicht der Labore, sondern der Agora. Man kann es auch anders sagen: Es ist nicht eine Sache der Gehirne, sondern der Geister.
Sein/Sollen - Eine Dichotomie? Wieso eigentlich?
Was die Sein-Sollens-Dichotomie betrifft, ist zwar gegen Humes Einwand nichts zu sagen. Er wandte ein, dass ihm immer da, wo Philosophen Moralsysteme zu begründen versuchen, aufgefallen ist, dass sie bei der Beschreibung menschlichen Verhaltens still und leise von der Verwendung der Kopula sein zur Kopula sollen übergegangen sind.
„ ...when of a sudden I am surpriz’d to find, that instead of the usual copulations of propositions, is, and is not, I meet with no proposition that is not connected with an ought, or an ought not. This change is imperceptible; but is, however, of the last consequence. For as this ought, or ought not, expresses some new relation or affirmation,“3
Ein klammheimlicher Übergang von sein in sollen... so als seien Sein und Sollen das selbe.
'Löwen sind gefährlich. Man sollte sie wegsperren!' Der Übergang würde mich persönlich zwar überzeugen, der folgende aber schon nicht mehr: 'Löwen sind gefährlich. Man sollte sie ausrotten!'
Hume ist so verstanden worden, dass er sagen wolle, dass die Logik generell keinen Übergang vom Sein zum Sollen bietet. Davon ist die These George Edward Moores zu unterscheiden, wonach es nicht nur auf dem Weg über die Logik, sondern auch auf dem Weg über die Semantik keinen Übergang vom Sein zum Sollen geben könne, weil das Wort 'gut' undefinierbar sei, die Eigenschaft 'gut' nicht deskriptiv und daher eine Banane zwar krumm, aber niemals gut sein könne. Vertreter der These sprechen dann von einem naturalistischen Fehlschluss. Jeder Marktverkäufer würde da gestützt auf lebenslange Berufserfahrung widersprechen. Natürlich können Bananen gut sein.
Was mir dabei grundsätzlich nicht einleuchtet: wenn wir Menschen als materielle Wesen beschreibbar sind und wenn die Dimension des Sollens überhaupt Sinn macht, muss sie ohne einen grundsätzlichen Bruch in die Beschreibung des Menschen als eines materiellen Wesens integrierbar sein. Es muss also eine Verständnisebene geben, auf der sich das, was sein soll, durch die Beschreibung dessen begründen lässt, was ist. Und mir scheint klar zu sein, dass das anders, als Hegel sich vorstellt, eine partikulare Begründung sein muss. Andernfalls würde man unterstellen, dass wir in der Lage sind, den materiellen Kosmos nicht nur als ein Ganzes, sondern auch beliebig detailiert und lückenlos zu beschreiben. Das können allerdings nicht die Trixereien sein, die Hume zurecht moniert.
Mir scheint, Anhänger der Sein-Sollens-Dichotomie hängen noch am Leib-Seele-Dualismus. Wo der Übergang noch nicht verstanden ist, wird behauptet, es gebe keinen. Und mit dieser These wird weitergedacht. Umgekehrt wäre ein grundloser Optimismus genauso falsch. Der Optimismus, es werde sich schon früher oder später ein Übergang finden lassen und also sei man besser von vorn herein Monist, ist allerdings ebenso schlecht begründet. Solange nicht klar ist, wie der Sternenstaub, aus dem wir Menschen bestehen, nicht nur schwarze Löcher, sondern auch Kulturleistungen hinbekommt, sind beide Positionen, die monistische wie die dualistische letztlich äquivalent. Die eine eignet sich bislang eher für Naturwissenschaftler, Physiker, Mediziner. Dort bringt die Vorstellung einer Seele in unserem Kulturkreis wenig Erkenntnisgewinn. Die andere ist geradezu Existenzbedingung für alle Verhältnisse zwischen Menschen und all die Disziplinen, die sich damit beschäftigen, für Kulturtheoretiker, Soziologen, Psychologen, für jeden Politiker, jeden Lehrer und eben nicht nur für jeden Priester. Die gesamte Terra incognita zwischen Leib und Seele, alles dazwischen ist der Platz fürs Alltagsgeschäft und die Dinge des Lebens darin. Wie wenig weit man kommt, wenn es zwischen Menschen seelenlos gehen soll, beweist mir die Dürftigkeit des Homo rationale. Mit einem Homo-Rationale-Bashing liegt man als Philosoph immer richtig. Schade eigentlich. Das Argument ist inzwischen all zu billig. Karl Marx hätte gesagt: zu 'wohlfeil'.
Früher konnte man immer wieder lesen, dass der schlagende Beweis dafür, wie geistig hoch entwickelt der Mensch sei, noch über seine technische Findigkeit hinaus seine Fähigkeit zur Selbstreflexion sei. Das sei die Fähigkeit, die ihm eigentlich erst ermögliche, alles und jegliches ins Verhältnis zu sich selbst zu setzen, alles einschließlich sich selbst von reflektierten und deshalb auch von wohl verstandenen Kriterien aus zu bewerten und so eigentlich überhaupt erst wirklich etwas zu wissen. Man glaubte sich sicher zu sein, dass die entscheidende Klammer für gültige Urteile letztlich jeder in sich selbst finden könne.
Seitdem wurden den Menschen zwei Weltkriege und nach 1945 über einhundert weitere größere oder kleinere Waffengänge weltweit als unumgänglich verkauft oder schlicht aufgezwungen, von denen, ginge es allein um ausreichende Ressourcen für jedermann und gäbe es für die entsprechende Verteilung ein vernünftiges Instrumentarium, ausnahmslos alle vermeidbar gewesen wären. Daraus folgt ziemlich unabweisbar, dass entweder an der Vernünftigkeit der Selbstreflexion und des sich daraus ergebenden Selbstbewusstseins zu zweifeln ist oder an dessen Weitsicht. Auch das hat sich längst herumgesprochen und so ziemlich alles diskreditiert, was vom Begriff der Seele übrig geblieben ist. Die Selbstreflexion ist schwach, und die Seelenreste polarisieren sich in wohlwollende Seelchen und verstörte, gewaltbereite Psychopathen. Selbstreflexion reduziert sich heute auf die Wahrnehmung eigener Abhängigkeit.
Besser wäre, wenn wir auf eine bei weitem intelligentere Weise, als das heute jedem von uns persönlich möglich ist, direkteren Einblick in die uns umgebenden gesellschaftlichen Prozesse hätten, wenn die Möglichkeiten des Selbstbewusstseins durch ein entsprechendes Gesellschaftsbewusstsein fundiert wären, das mehr wäre als ein Bewusstsein von Abhängigkeit. Der Blick in die Seele müsste ein Blick in alle Seelen sein können. Auf eine allerdings ziemlich gruselige Weise wird genau das mit Mitteln von KI und Big Data immer realer. Dass ausgerechnet das Selbstbewußtsein der oberste Ausdruck von Wissenkönnen sein soll, wird gerade diskreditiert.
Aristoteles: Logik ist buchstäblich Kollektivbewusstsein
Dagegen wirkt selbst die uralte Dialektik des Aristoteles geradezu utopisch. Sie besagt: was gilt und was nicht, wird in einer diskutierenden Gesellschaft entschieden. Dabei zählt Aristoteles die Techniken auf, die man lernen kann, und mit denen der Einzelne ins Geschehen eingreifen kann, Techniken des Streitgesprächs, mit denen sich Argumente verbessern lassen und die dem eine Richtung geben, wozu sich am Ende die Mehrheit derer entscheidet, die gerade als Entscheider zugelassen sind. Damals waren das bekanntermaßen nur die Männer mit Bürgerrecht in Athen, heute sind es in Demokratien alle Bürger mit Wahlrecht. In solch einer aristotelischen Diskussion kann prinzipiell fast jedes Thema vorkommen. Es gibt nur zwei Ausnahmen:
„Auch darf man nicht jeden Streitsatz und jede These beachten, sondern nur die, wo man im Zweifel ist, weil man der Gründe bedarf und nicht bloß der Züchtigung oder der Wahrnehmung. Denn derjenige, welcher zweifelt, ob man die Götter verehren und seine Eltern lieben solle oder nicht, bedarf nur der Züchtigung, oder wer zweifelt, ob der Schnee weiss ist, oder nicht, bedarf nur der Wahrnehmung.“
Wir brauchen Gründe. Das ist auch bei Aristoteles die Voraussetzung. Aber eben nicht immer. Manchmal ist auch so schon alles klar vom Hinschauen oder weil man gut erzogen ist. Überrascht uns das nicht, mit welcher Nonchalance Aristoteles das zu seiner Zeit sagen kann? Dies vorausgesetzt wagt Aristoteles implizit die Behauptung, dass logische Zwänge in einer durch Diskussionen geleiteten kollektiven Entscheidungsfindung stärker sind als ungeordnete Emotionen. Gut, es gibt sie auch bei Aristoteles die Demagogen und Populisten, aber sie ziehen für ihn notwendigerweise gegen geschulte Dialektiker den kürzeren. Interessant ist jetzt nicht so sehr die Frage nach dem Verhältnis von Logik und Gefühl oder die Frage, wann sich logische Begründungen empirisch gegen Gefühlsduseleien durchsetzen können. An sich ist das zwar hochinteressant. Aristoteles' Behauptung, Logik setze sich durch, ist aber etwas anderes: Sie gibt eine Vorstellung davon, was seiner Ansicht nach Kollektivbewusstsein ist, auch wenn er das natürlich nicht so nennt.
Kann sollte man Kollektivbewusstsein als das Bewusstsein verstehen, das ein Kollektiv hat? Das ist ungereimt. Bewusstsein hat doch wohl jedes Individuum für sich allein. Zwei Menschen können vielleicht über einen Sachverhalt mehr oder weniger das selbe wissen oder meinen, aber sie können nicht das selbe Bewusstsein haben. Bewusstsein ist personalisiert. Der klassische Leninismus meinte etwas von dieser Art mit Kollektiv- oder Klassenbewusstsein, das Wissen, zu einer bestimmten Klasse zu gehören, sich das eigene Lebensschicksal aus seiner Klassenzugehörigkeit zu erklären, daraus bedingt zu sein und die Stärke dieser Klasse als gesellschaftliche Kraft abschätzen zu können und damit den eigenen Ort und Wert in einem gesellschaftlichen Kampf. Aber es kann ja wohl nicht sein, dass Kollektive irgendwie Supersubjekte sind. Oder doch? Gut, es könnte sein, dass viele Individuen sich gesellschaftliche Sachverhalte ungefähr gleich erklären, und dabei ihre eigene Existenz mitten in ihrer sozialen Umgebung ähnlich verstehen, weil sie ähnlich ist und sie ungefähr alle auf die gleiche Weise an ähnlichen Bildungseinrichtungen gelernt haben, sie zu verstehen.
Bleiben wir bei Aristoteles. Natürlich gibt es sehr persönliche Vorurteile, Ressentiments, Aversionen und Präferenzen, jeder hat sie, Georgios gegen Glaukos, Glaukos gegen Gregorios und am Ende alle zusammen gegen Ausländer. Ressentiments spielen bei Entscheidungen im alten Athen oder bei uns wohl immer eine Rolle, aber sie lassen sich leiten, z.B. durch eine dialektische Diskussion. Davon ist Aristoteles überzeugt. Diese tut letztlich aus Sicht von Aristoteles nichts anderes als das Durcheinander, das bei ihm der einzige denkbare Grund für Zweifel ist, zu ordnen. Das ganze ist ein Streit. Es geht um strittige Argumente. Der geschulte Dialektiker kann durchaus seine Kenntnis für eigene Zwecke demagogisch missbrauchen und die Diskussion in eine Richtung lenken, die er persönlich gern hätte. Das konzediert Aristoteles sofort. Er muss nur schlüssiger diskutieren als sein Gegner. Er riskiert allerdings dann, von seinem Gegner widerlegt zu werden, wenn er selbst nur suboptimal argumentiert und aus purem Egoismus die Gründe unterschlägt, die für andere relevant sein könnten. Aristoteles stellt sich die dialektische Diskussion also so vor, dass sie aus sich selbst heraus einen Drive entwickelt, der sie durchaus von partikularen Interessen wegführt. Und in genau diesem Sinn ist für Aristoteles die Logik selbst so etwas wie ein Kollektivbewusstsein.
Das ist meines Erachtens eine aus heutiger Sicht ausgesprochen originelle Definition von Logik. Ich habe kaum je gelesen, dass irgendwo ein Begriff von Logik anders als formal definiert wird. Hier biete ich einmal eine nicht formale Definition an: Logik ist das Kollektivbewusstsein, das ein Dialektiker entwickeln oder erlernen und das er dann z.B. in höherem Maß besitzen kann als seine Mitmenschen. Es ist das Bewusstsein, das der Dialektiker als einzelner davon gewinnen kann, wie das Kollektiv 'tickt'. Und was es noch attraktiver macht: Es ist nicht das Bewusstsein, persönlich durch ein opakes Kollektiv fremdbestimmt zu werden, sondern das Bewusstsein der konkreten Möglichkeit, ein diskutierendes Kollektiv dazu zu bewegen, sich für sich selbst zu entscheiden. Es ist die Fiktion der Verschmelzung von Diskurs und Wahrheit. Demnach ist Logik nicht nur das Kollektivbewusstsein des Dialektikers, sondern auch so etwas wie das Selbstbewusstsein des Kollektivs im Akt der Beschlussfassung und in der Folge daraus später als gesetztes Recht.
Das klingt zu schön, um wahr zu sein. Natürlich reicht es nicht, Logiker zu sein, um schon zu wissen, wie ein Kollektiv 'tickt'. Unterschiedliche Herrschaftsstrukturen, unterschiedliche Eigentumsverteilungen, unterschiedliches Wahlrecht, unterschiedliche Rechtsprechung … Jeder Schrott landet im politischen Diskurs, sofern der überhaupt stattfindet. Dort aber ist Logik ein Hauptstück der Suche nach Verbindlichkeit und eben als das Kollektivbewusstsein.
Wo 'ich will ... ' war, soll 'ich habe ein Recht auf … ' werden.
Eine Alternative zu dieser aristotelischen Perspektive wäre, sofern man den Menschen weiterhin als materielles Wesen beschreiben will, dass sich das Sollen auf ein Spiel der sozialen Aushandlung oder des Zwangs reduziert, auf Wollen, Können und Müssen, auf ein Spiel von Freiheit, Zwang und Willkür. Wenn an diesem Spiel etwas verständlich wäre, das über den engen Rahmen privater Vorurteile hinausreicht, wäre das nicht auf der Ebene der einzelnen Individuen zu finden, sondern wiederum in den sozialen Netzen. Auf dieser Ebene werden 'gut' und 'schlecht' allerdings sehr wohl in Form von Rechtsordnungen der unterschiedlichsten Qualität, demokratischer oder totalitärer, zu deskriptiven Eigenschaften von Freien und Sklaven, Privilegierten und Unterdrückten. Die Aufgabe, die sich seit der Aufklärung in Bezug auf das Sollen stellt, ist es, besser zu verstehen, welche Formen der Kontrolle der das individuelle Sollen bestimmenden sozialen Netzwerke möglich sind. Was daran ist überhaupt verstehbar? Und wenn es dabei um eine Frage des Aushandelns widerstreitender Interessen geht, dann muss es auch so etwas wie Selbstverpflichtungen geben. Ohne ein für andere nachvollziehbares Maß an Selbstverpflichtung würden Verhandlungsergebnisse völlig unverbindlich bleiben. Allein das wäre bereits ein Punkt, an dem Sollen regelmäßig wirksam aus Sein abgeleitet wird.
Heute verringert sich der Unterschied zwischen 'ich will ... ' und 'ich habe ein Recht auf … ' an vielen Stellen. Nicht wenige meinen, dass die Menschheit in ethischer Hinsicht Fortschritte gemacht hätte, vor allem durch die Deklaration der Menschenrechte. Wenn jemand heute den Satz schlechterdings verneinen würde, dass Frauen an sich die gleichen Rechte wie Männer haben müssten, hätte er verständlicherweise mit massiven Anfeindungen zu rechnen. Dabei ist der Satz wirklich unrichtig. Niemand hat auf irgendetwas an sich Rechte. Männer nicht und Frauen auch nicht. Immer ist es eine Rechtsordnung, die den Unterschied zwischen beidem, zwischen 'ich will ... ' und 'ich habe ein Recht auf … ' ausmacht und mich als Rechtssubjekt, also als einen dem Recht unterworfenen Menschen bestimmt. Das selbe galt immer schon für die Parole, nach der alle Menschen gleich geboren sind und ihnen daher gleiche Rechte zustehen. Unbestreitbaren Wert haben solche naturrechtlichen Parolen im gesellschaftlichen Kampf um jeweils bestimmte Freiheitsrechte. Wenn es aber bei all dem dennoch um das Konstituierte, um den einzelnen Menschen gehen soll und nicht um das soziale Gebilde, das ihn konstituiert und von dem allein abhängt, welche Rechte er hat, fragt sich natürlich, wie sich dieser millionenfache Schwächling, der Einzelne, auf der Ebene des Gesellschaftlichen hat geltend machen lassen. Zu meinen, das geschehe aufgrund seiner angeborenen Freiheit und Gleichheit, die er nur erkennen müsse, um frei zu werden, ist pure Ideologie und war nie etwas anderes. Die Menschen sind nämlich nicht erst 1789 frei auf die Welt gekommen und vorher nicht. Was sich im 19. Jahrhundert und danach stark verändert, ist die Art, wie gesellschaftlich Chancen verteilt werden. Das ändert nichts daran, dass der Mensch als Solist noch der gleiche durchschnittliche Schwächling ist, der er immer schon war. Da hilft kein Exerzierplatz, kein Fitnesscenter und kein Sportverein. Anderslautende Vorstellungen entstammen dem Bilderzirkus um Paarung und Nestbau. Alle nennenswerten Kräfte des Einzelnen sind gesellschaftlich, ob der SUV oder der Vorstandsposten, das Richteramt, der Platz im Flieger oder am Tisch. Um die genuinen eigenen Kräfte geht es in unserer Gesellschaft regelmäßig ganz am Ende des Lebens, wenn existenziell und nicht nur intellektuell klar wird, dass niemand auf Dauer beim Luft holen hilft.
Nach einer semantischen Verbindung von Sein und Sollen muss man dann suchen, wenn man vorher wie David Hume Wille und Vernunft getrennt hat. Die Trennung ist rückblickend im Grunde schwer zu verstehen. Ist es nicht eigentlich selbstverständlich, dass jemand, der klar bei Verstand ist, über die Themen nachdenkt, die ihn auch persönlich betreffen?
Was man will und womit man es dabei zu tun hat wird nicht getrennt voneinander sichtbar und bedacht. Ein Verständnis, das den eigenen Willen nicht kennenlernt, ist beschränkt. Ein Verständnis aber auch, das verkennt, dass es zumeist um alles andere geht als um den eigenen Willen. Ethische Probleme fangen all zu oft mit der Unterscheidung an, was einen alles nicht betrifft, obwohl es unverkennbar existent ist. Aber aus dieser all zu menschlichen Begrenztheit abzuleiten, dass sich aus dem Sein kein Sollen ableiten ließe, nur weil es das oft genug nicht wird, halte ich für unplausibel. Das zur semantischen Sperre.
Eine logische Verbindung dagegen von sein und sollen kann man nur dann vermissen, wenn es entweder für das Sollen eine zweite Quelle gibt (das wäre die Kantische Lösung) oder wenn das, was sein soll, ausverhandelt werden muss, das jedoch, was ist, das radikale Gegenteil einer Verhandlungssache ist, wenn nicht strittig sein kann, ob etwas ist oder nicht ist. In der Vorstellung, dass es in der Tat niemals Verhandlungssache ist, ob etwas ist oder nicht, leben wir allerdings alle. Dieses Bildungsgut ist in unseren Köpfen geradezu fest verdrahtet. Alles andere kommt uns mittelalterlich vor und würde uns wie Geisterseherei erscheinen. In der Tat gehen wir davon aus, dass wenn etwas experimentell festgestellt, wenn es gemessen und die Messung überprüft ist, dass es dann auch so ist wie festgestellt und dass die Zugehörigkeit des somit Faktischen zum Wissen keine Verhandlungssache mehr ist.
Diese Vorstellung ist allerdings überprüfungsbedürftig. Natürlich kann es strittig sein, ob etwas ist oder nicht. Descartes eröffnet die Moderne ja gerade mit dem Zweifel. Popper bindet Wissenschaftlichkeit an Bezweifelbarkeit. Descartes' Frage ist, was uns aus dem Zweifel heraushilft. Seine Lösung, die Selbstvergewisserung ('ich denke') wird irgendwann der Vergewisserung im Diskurs gegenüberstehen. Nach Kants kritischer Wende, dass nicht die Erscheinungen uns die Gesetze geben, sondern unser Denken den Erscheinungen, ist das auch kein Wunder, sobald wir alle nicht mehr das selbe denken. Besonders hart trifft die Vielstimmigkeit die Ethik, nachdem die Kantische These (ich denke, also soll ich) an Überzeugungskraft eingebüßt hat, weil die Stimme die da in uns spricht, zwar möglicherweise dieselbe ist, die uns bei Descartes das Sein bestätigt. Gerade sie verbreitet leider über das Sollen recht widersprüchliche Maximen je nachdem, aus wessen Mund sie gerade kommt. Es ist pluralistisch, nicht notwendig und allgemeingültig. Es gilt erst, was entsprechend verhandelt ist und nur dort.
In Bezug auf die Seinsfrage hat die Descartes'sche Stimme länger durchgehalten. Aber auch dabei wird sie seit nun fast einhundert Jahren immer leiser. Beim Sein gilt das Experiment ('es tickt, also ist es'), beim Sollen die Verhandlung. Eine Trennungslinie wurde gezogen. Und sie ist es, die man beklagt, wenn man einen Übergang von Sein nach Sollen vermisst. Wäre sie nicht gezogen worden, was richtiger wäre, gäbe es nicht viel zu vermissen. Um so wichtiger ist es zu fragen, wodurch sie denn eigentlich gezogen wurde und ob sie so heute noch besteht oder ob Philosophie, die dieser Trennung hinterherläuft, egal ob sie sie nun für unvermittelbar hält oder für aufhebbar – denn auch solche Philosophie denkt von der Trennung aus, – nicht einem Problem hinterherläuft, das nur noch in den Akten der Philosophiegeschichte besteht.
Das Wahre und Gute im selben Gespräch – die Topik des Aristoteles
In der Topik des Aristoteles, in seiner Theorie der dialektischen Argumentation war auch die rechte Meinung über das Sein und nicht nur über das Sollen Verhandlungssache.
Aristoteles hatte kein Problem auszuführen:
„Ich werde nun zunächst bestimmen, was ein dialektischer Satz und was ein dialektischer Streitsatz ist; denn nicht jeder Satz und nicht jeder Streitsatz kann für einen dialektischen gelten, da kein Verständiger einen Satz aufstellen wird, der Niemandem glaubwürdig erscheint, oder einen Streitsatz hinstellen wird, welcher Allen oder den Meisten unzweifelhaft ist. Bei letzterem gäbe es keine Bedenken und einen allgemein für unglaubwürdig gehaltenen Satz wird Niemand zum Beweis benutzen. Vielmehr ist der dialektische Satz ein in Form einer Frage ausgesprochener Satz, welcher Allen oder den Meisten oder von den weisen Männern allen oder den meisten, oder den erfahrensten glaubwürdig erscheint und welcher nicht gegen die allgemeine Meinung verstösst; denn man kann wohl auch Sätze hier aufstellen, welche die weisen Männer billigen, sofern sie nur nicht der Meinung der Menge entgegenlaufen.“
… woher war damals und woher ist heute eigentlich klar, wer die Verständigen sind? Durch diverse gesellschaftliche Markierungen. Sozusagen durch athenischen peer review. Wohlgeordnete Gesellschaften verteilen diese Rollen.
Und noch einmal das, um's auf der Zunge zergehen zu lassen, was Aristoteles zu Prügel und Augenfälligkeit sagt:
„Auch darf man nicht jeden Streitsatz und jede These beachten, sondern nur die, wo man im Zweifel ist, weil man der Gründe bedarf und nicht bloß der Züchtigung oder der Wahrnehmung. Denn derjenige, welcher zweifelt, ob man die Götter verehren und seine Eltern lieben solle oder nicht, bedarf nur der Züchtigung, oder wer zweifelt, ob der Schnee weiss ist, oder nicht, bedarf nur der Wahrnehmung. Auch Streitsätze, für welche der Beweis auf der Hand liegt, oder für welche er zu verborgen ist, darf man nicht beachten; denn bei jenen besteht kein Zweifel und bei diesen sind deren für die blosse Uebung zu viele.“So sind die moralischen Grundsätze zur Not so lange in Sein eingebläutes Sollen, wo es nicht ohnehin schon drinsteckt, bis es sich ganz verlässlich aus dem Sein wieder ableitet, aus ihm hervorquillt, Sollen aus Sein. Von da aus kann es nur noch Verständnisprobleme wegen Doppeldeutigkeiten der verwendeten Worte geben. So sieht das Aristoteles. Die lassen sich mit klaren logischen Grundsätzen beheben. Das ist, was die Topik des Aristoteles lehrt. Tugenden, diese ungetrübte Doppelnatur von Sein und Sollen, werden in einem Atemzug mit Farben wie 'weiss' in ein einziges Gerüst aus Gattung, Art, Eigenthümliches oder Nebensächliches sortiert und hierarchisiert. Kategorien, Logik, Augenschein und gelegentliche Prügel, das reicht, um Sein und Sollen zusammenzudenken.
„Ein dialektischer Streitsatz ist ein zur Untersuchung gestellter Satz, welcher sich entweder auf ein Befolgen oder Vermeiden oder auf die Wahrheit und die Erkenntniss bezieht.“Also auf beides. Kollektivpräferenzen dürfen zunächst als verlässlich gelten:
„Ob von zwei oder mehreren Dingen eines das wünschenswerthere oder bessere sei, ist nach folgenden Gesichtspunkten zu prüfen. Ich bemerke zunächst, dass ich diese Prüfung nicht bei Dingen austeile, die weit von einander abstehen und sehr verschieden sind (denn Niemand zweifelt, ob die Glückseligkeit dem Reichthume vorzuziehen sei), sondern nur bei Dingen, die einander sehr nahe stehen und wo man zweifelt, ob man das eine dem anderen vorziehen solle, weil man nicht sieht, dass eines das andere übertrifft. Bei diesen Dingen ist klar, dass, wenn gezeigt worden, dass das eine das andere in einem oder mehreren Punkten übertrifft, man zustimmen wird, dass das vorzuziehen sei, welches das andere übertrifft.
Zunächst ist nun das länger Dauernde und das Festere vor dem in diesen Punkten Geringeren vorzuziehen; ebenso das, was der kluge und gute Mann oder das richtige Gesetz vorziehen würde, oder was die für die einzelnen Gebiete tüchtigen Männer als solche vorziehen, oder was die in den einzelnen Gebieten Erfahrenen, oder die Meisten oder Alle von ihnen vorziehen; z.B. das, was in der Heilkunst oder Baukunst die meisten der Aerzte oder alle von ihnen vorziehen, oder überhaupt was die Meisten oder Alle vorziehen, oder was alle Welt vorzieht, z.B. das Gute, da Alles nach dem Guten strebt. Man muss hierbei sein Augenmerk auf den Gesichtspunkt richten, der für den vorliegenden Streitfall am brauchbarsten ist. Allgemein besser und wünschenswerther ist das, was zu einer besseren Wissenschaft gehört und für den Einzelnen das, was zu seiner Wissenschaft gehört.
Ferner ist das, was als solches etwas ist, dem vorzuziehen, was nicht zur Gattung gehört; so die Gerechtigkeit dem Gerechten; denn das eine gehört zur Gattung des Guten, das andere nicht, und jenes ist es als Gutes, dieses aber nicht. Denn nichts gilt als Gattung, was nicht in der Gattung enthalten ist; so ist der weisse Mensch nicht in der Gattung der weissen Farbe enthalten. Dasselbe gilt für andere Fälle.
Auch ist das um sein selbst willen Wünschenswerthe besser, als das um eines andern willen Wünschenswerthe, z.B. das Gesundsein besser als das Turnen; denn jenes ist an sich wünschenswerth, dieses um eines andern willen. Ebenso ist das an sich Seiende wünschenswerther als das Nebensächliche; z.B. dass die Freunde gerecht seien, ist wünschenswerther, als dass die Feinde gerecht seien; denn jenes ist an sich wünschenswerth, dieses nur nebenbei, denn man wünscht nur deshalb nebenbei, dass die Feinde gerecht seien, damit sie uns keinen Schaden zufügen. Dieser Gesichtspunkt ist derselbe, wie der vorhergehende; er unterscheidet sich nur in der Form; denn dass unsere Freunde gerecht seien, wünscht man an sich selbst, auch wenn man davon keinen Vortheil hat, und selbst wenn sie in Indien sind; dass aber die Feinde gerecht seien, wünscht man um eines andern willen, nämlich damit sie uns keinen Schaden zufügen.“
Aristoteles' Ausführungen lassen ein bestimmtes Verfahren des Begründens erkennen oder in einem Wort: sie lassen Rationalität erkennen. Aber der Charakter dieser Form von Rationalität ist wesentlich regional. Sie vergleicht nah Beieinanderliegendes miteinander und lässt einzelne Fachkompetenzen zu Wort kommen. Die von ihm in seiner Topik vorgeschlagene Rationalität versucht, Sinn-Inseln zu verbinden.
Der un-ewige Primat des Einen
„Alles Seiende ist durch das Eine seiend, sowohl das, was ursprünglich seiend ist (… die platonischen Ideen A.v.m.), als auch das, was irgendwie zu dem Seienden gezählt wird. Denn was sollte es auch sein, wenn es nicht Eins wäre? Da ja jenes, des Einen beraubt, nicht ist was es genannt wird. (...) wenn sie diese verloren haben, so ist das Haus nicht mehr Haus und das Schiff nicht mehr Schiff.“4
… und man muss ergänzen, wenn sie nicht eins wäre, dann wäre aus dieser Sicht die Welt nicht mehr die Welt. Einheit ist also für Plotin und von dort aus für die gesamte christliche, jüdische und arabische Mystik, die grundlegendste Bedingung für das Sein und die Denkbarkeit von allem. Damit knüpft Plotin an Parmenides und Platon an, der unter nichts das versteht, was nicht einmal Eines ist. Was ist, das ist notwendig Eines und es ist eben darum, weil es Eines ist. Und nicht nur sein Sein, sondern auch seine Bestimmtheit besitzt jegliches als einheitliche Bestimmtheit. Das absolut Unbestimmte ist weder etwas, noch ist es überhaupt, noch kann es gedacht werden. Einheit ist darum der Grund des Seins nicht nur der Existenz, sondern auch im Sinne des Was-Seins. Das Viele ist nur als geeinte Vielheit denkbar, also als einheitliches Ganzes. Das Eine selbst ist jenseits aller Bestimmtheit absolut einfach. Johannes Scottus Eriugena nennt später im 9. Jahrhundert das Absolute in der selben Tradition das nihil superessentiale.
Plotin steht an der Spitze einer Tradition, in der der Einheitsgedanke für das Denken schlechterdings unhintergehbar ist und in der es dementsprechend schwer vorstellbar ist, dass es Rationalität, oder m.a.W. gültige Verfahren des Begründens geben könnte, die als unvereinigte Vielheit nebeneinander bestehen könnten. Was man sich bis ins 20. Jahrhundert im abendländischen Denken allgemein so gut wie nicht vorstellen kann, ist die Möglichkeit im Denken unverbundener Wirklichkeitsbereiche. Man erinnert sich an den schönen Satz von Karl Marx aus der Deutschen Ideologie, in der er den perfekten Kommunismus beschreibt, der es jedem
„möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.“5
Solche Vielgestaltigkeit ist den Philosophen welcher Couleur auch immer bis heute ausnahmslos verdächtig, sobald es nicht um den Inhalt der Tätigkeiten, sondern um das Wie des Denkens geht.
Dass sie morgens jagen, mittags fischen und nach dem Essen kritisieren geht völlig in Ordnung, solange sie nur von morgens bis abends auf ein und dieselbe Weise denken. Alles andere ist unvorstellbar, wird als naiv, unreflektiert und wenn es hart kommt als pathologisch abgetan. Und zwar aus eben der Denktradition, die in Plotin kulminiert und in der es mehr oder weniger ausdrücklich eine göttliche Instanz gibt, die den Diaprojektor in Platons Höhle anschmeißt.
Kant: Verteidiger der Einheit der Vernunft
Die erkenntnistheoretische Linie allerdings, in der am nachdrücklichsten darauf bestanden wird, dass Denken überhaupt mit der spontanen Herstellung von Einheit und nicht von verstreuten Vielheiten beginnt und dass sich daraus apriori genau eine einzige notwendige Form von Rationalität ergibt, geht von Kants Kritik der reinen Vernunft aus. Es war ein Rettungsversuch des Einheitsdenkens gegen den Empirismus. Für ihn hat der Verstand eine einzige grundlegende Form. Die KrV dürfte die mit Abstand einflussreichste Erkenntnistheorie sein, die das Denken überhaupt als kontinuierliches Vereinheitlichungsereignis versteht. Sie wirkt als das bis in das 20. und 21. Jahrhundert hinein. Rationalität existiert für Kant nicht im Plural, metaphorisch gesprochen nicht als ein Gewitter, das hier und dort und an vielen Stellen parallel und nacheinander zündet und Inseln von Sinn entstehen lässt, sondern als eine einzige permanente Flamme. Für Kant hat menschliche Erkenntnis mit Sinnlichkeit und Verstand bekanntlich zwei „Stämme“: Er versteht das Denken grundsätzlich als ein spontanes Verbindungsgeschehen und als begriffliches auch immer als ein Vereinheitlichungsgeschehen. Denken heißt rezeptiv sein, spontan Mannigfaltigkeit zulassen und daraus ebenso spontan Einheit herstellen.
„Vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen; durch den Verstand aber werden sie gedacht, und von ihm entspringen Begriffe. Alles Denken aber muß sich (...), vermittelst gewisser Merkmale zuletzt auf Anschauungen, mithin bei uns auf Sinnlichkeit beziehen, weil uns auf andere Weise kein Gegenstand gegeben werden kann. Die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, sofern wir von demselben affiziert werden, ist Empfindung. Diejenige Anschauung, welche sich auf den Gegenstand durch Empfindung bezieht, heißt empirisch.“6
„Das Mannigfaltige der Vorstellungen kann in einer Anschauung gegeben werden, die bloß sinnlich, d. i. nichts als Empfänglichkeit ist, und die Form dieser Anschauung kann a priori in unserem Vorstellungsvermögen liegen, ohne doch etwas anderes als die Art zu sein, wie das Subjekt affiziert wird. Allein die Verbindung (conjunctio) eines Mannigfaltigen überhaupt kann niemals durch Sinne in uns kommen und kann also auch nicht in der reinen Form der sinnlichen Anschauung zugleich mit enthalten sein; denn sie ist ein Aktus der Spontaneität der Vorstellungskraft, und da man diese zum Unterschiede von der Sinnlichkeit Verstand nennen muß, so ist alle Verbindung, wir mögen uns ihrer bewußt werden oder nicht, es mag eine Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung oder mancherlei Begriffe, und an der ersteren der sinnlichen oder nichtsinnlichen Anschauung sein, eine Verstandeshandlung, die wir mit der allgemeinen Benennung Synthesis belegen würden, um dadurch zugleich bemerklich zu machen, daß wir uns nichts als im Objekt verbunden vorstellen können, ohne es vorher selbst verbunden zu haben, und unter allen Vorstellungen die Verbindung die einzige ist, die nicht durch Objekte gegeben, sondern nur vom Subjekte selbst verrichtet werden kann, weil sie ein Aktus seiner Selbsttätigkeit ist.“7
Diese Synthesisleistung ist nach Kants Dafürhalten durch „reine Erkenntnis“ vor aller Erfahrung beschreibbar, ohne auch nur auf die geringste empirische Information schauen zu müssen.
„Der Gebrauch dieser reinen Erkenntnis aber beruht darauf als ihrer Bedingung: daß uns Gegenstände in der Anschauung gegeben sind, worauf jene angewandt werden könne. Denn ohne Anschauung fehlt es aller unserer Erkenntnis an Objekten, und sie bleibt alsdann völlig leer. Der Teil der transzendentalen Logik also, der die Elemente der reinen Verstandeserkenntnis vorträgt und die Prinzipien, ohne welche überall kein Gegenstand gedacht werden kann, ist die transzendentale Analytik und zugleich eine Logik der Wahrheit. Denn ihr kann keine Erkenntnis widersprechen, ohne daß sie zugleich allen Inhalt verlöre, d. i. alle Beziehung auf irgendein Objekt, mithin alle Wahrheit.“8
Es gibt also, so Kant, eine bestimmte Form von Rationalität, ohne die jeder inhaltliche Bezug obsolet wird. Einerseits formuliert Kant sein Credo:
„Es ist nur eine Erfahrung, in welcher alle Wahrnehmungen als im durchgängigen und gesetzmäßigen Zusammenhange vorgestellt werden: ebenso, wie nur ein Raum und Zeit ist, in welcher alle Formen der Erscheinung und alles Verhältnis des Seins oder Nichtseins statt finden. Wenn man von verschiedenen Erfahrungen spricht, so sind es nur so viel Wahrnehmungen, sofern solche zu einer und derselben allgemeinen Erfahrung gehören. Die durchgängige und synthetische Einheit der Wahrnehmungen macht nämlich gerade die Form der Erfahrung aus, und sie ist nichts anderes, als die synthetische Einheit der Erscheinungen nach Begriffen.
Einheit der Synthesis nach empirischen Begriffen würde ganz zufällig sein und, gründeten diese sich nicht auf einen transzendentalen Grund der Einheit, so würde es möglich sein, daß ein Gewühle von Erscheinungen unsere Seele anfüllte, ohne daß doch daraus jemals Erfahrung werden könnte. Alsdann fiele aber auch alle Beziehung der Erkenntnis auf Gegenstände weg, weil ihr die Verknüpfung nach allgemeinen und notwendigen Gesetzen mangelte, mithin würde sie zwar gedankenlose Anschauung, aber niemals Erkenntnis, also für uns so viel als gar nichts sein.“.9
Also nochmal: Es ist nur eine Erfahrung, es gibt nur einen Raum und eine Zeit und diese Einheit entspricht völlig der Einheit der Erscheinungen nach Begriffen. Nur das schützt uns vor Zufälligkeit. Blöd nur, dass wir in unserer Existenz durch nichts und niemanden vor Zufällen geschützt sind. Kant argumentiert, dass „auch alle Beziehung der Erkenntnis auf Gegenstände“ wegfiele, wenn an dieser Stelle Zufälligkeit zugelassen wäre. Mir scheint, genau das Gegenteil ist der Fall. Ist es nicht gerade deren letztlich unausrottbare Zufälligkeit, was uns an Sachverhalte bindet? Es kommt offenbar darauf an, dass wir in die Lage kommen, mit dem Zufall umzugehen. Dazu scheint uns heute die Wahrscheinlichkeitsrechnung hilfreichen als die Behauptung, wir seien, komme was wolle, in der Lage, Heterogenes restlos zu vereinheitlichen. Nehmen wir ein bekanntes Beispiel aus der Physik. Wenn in der allgemeinen Relativitätstheorie eine gekrümmte Raumzeit rechnerisch bestimmt werden soll, kann damit beginnen, mit herkömmlichen planen Flächeneinheiten zu rechnen. Man muss sie nur unendlich verkleinern. Was heißt das jetzt im Hinblick auf die zugrundeliegende Einheitsvorstellung? Wird an ihr auf fremdem Terrain geradewegs festgehalten, oder wird sie im Gegenteil aufgegeben? Man darf es sich aussuchen.
Andererseits heißt es bei Kant zu Beginn der transzendentalen Analytik:
„Der reine Verstand sondert sich nicht allein von allem Empirischen, sondern sogar von aller Sinnlichkeit völlig aus. Er ist also eine für sich selbst beständige, sich selbst genugsame und durch keine äußerlich hinzukommende Zusätze zu vermehrende Einheit. Daher wird der Inbegriff seiner Erkenntnis ein unter einer Idee zu befassendes und zu bestimmendes System ausmachen, dessen Vollständigkeit und Artikulation zugleich einen Probierstein der Richtigkeit und Echtheit aller hineinpassenden Erkenntnisstücke abgeben kann.“10
„Hineinpassende Erkenntnisstücke“? Eine merkwürdige Metapher! In der leeren Form entsteht jedenfalls aus der hineingegossenen Schokolade zu Ostern nur deshalb ein Schokoladenhase, weil die Form nicht minder materiell ist als der Hase, den man ihr einmal abgekühlt entnimmt. Starke Magnetfelder formen im CERN die Bahnen der Elementarteilchen und nicht irgendeine leere Form. Dass eine nicht-empirische Form einen empirischen Gegenstand formen soll, ist aus heutiger Sicht unplausibel. Es müsste sich also um einen nicht-empirischen Gegenstand handeln. Aber wie schafft der das seinerseits wieder, nicht leer zu sein? Das schleißt Kant ja explizit aus.
Es ist allerdings keineswegs so,
dass Kant nicht die Möglichkeit pluraler Sinnfelder mitbedenkt:
„Wenn man ein Erkenntnisvermögen ins Spiel setzt, so tun sich nach den mancherlei Anlässen verschiedene Begriffe hervor, die dieses Vermögen (Aber eben nicht eine Mehrzahl von Vermögen A.v.m.) kennbar machen und sich in einem mehr oder weniger ausführlichen Aufsatz sammeln lassen, nachdem die Beobachtung derselben längere Zeit oder mit größerer Scharfsinnigkeit angestellt worden. Wo diese Untersuchung werde vollendet sein, läßt sich nach diesem gleichsam mechanischen Verfahren niemals mit Sicherheit bestimmen.“11
Wieder äußert Kant das selbe Bedenken: apodiktische Gewissheit fehlt. Das hält Kant allerdings für grundsätzlich unzureichend. Einheit wird zugleich als Vollständigkeit verstanden:
„Die Transzendentalphilosophie hat den Vorteil, aber auch die Verbindlichkeit, ihre Begriffe nach einem Prinzip aufzusuchen, weil sie aus dem Verstande als absoluter Einheit rein und unvermischt entspringen und daher selbst nach einem Begriffe oder Idee unter sich zusammen hängen müssen. Ein solcher Zusammenhang aber gibt eine Regel an die Hand, nach welcher jedem reinen Verstandesbegriff seine Stelle und allen insgesamt ihre Vollständigkeit a priori bestimmt werden kann, welches alles sonst vom Belieben oder vom Zufall abhängen würde.“ 12
Von daher fragt sich, ob wenn Verstand als spontane Synthesisleistung gedacht wird, als Hersteller von Einheit, die einzelnen Synthesisleistungen auch untereinander synthetisiert sind oder ob nicht genau das, wenn es denn der Fall sein soll, nicht jeweils allererst Einheit hergestellt werden muss oder vielleicht genauso gut auch fehlen kann. Kann der Verstand nicht gleichsam auf zwei oder mehr Klaviaturen spielen, ohne dass die denkenden Menschen durchdrehen? Anders gefragt: Sind die spontanen Verstandesleistungen überhaupt nur unter der Voraussetzung eines bestimmten notwendigen Systems apriorischer Gesetze möglich? Kant beansprucht, genau das in der KrV bewiesen zu haben. Sichere Erkenntnis kann sich nur auf apodiktische Gewissheit stützen, oder wie er einmal sagt: „auf einen gar keiner Gunst oder fremden Unterstützung bedürftigen Beifall“13. Also auf Wahrheit, die auf keinen Fall erst im Diskurs geschmiedet wird. Auch wenn der Verstand als spontane Synthesisleistung beschreibbar ist, scheint heute diese Voraussetzung nicht mehr zwingend. Und so ist es einigermaßen obsolet geworden, Erkenntnistheorie als Transzendentalphilosophie zu betreiben.
Kant überschreibt einen
Abschnitt der Einleitung der KrV mit „Wir sind im Besitze
gewisser Erkenntnisse a priori, und selbst der gemeine Verstand ist
niemals ohne solche“. Darin heißt es:
„Es kommt hier auf ein Merkmal an, woran wir sicher ein reines Erkenntnis von empirischen unterscheiden können. Erfahrung lehrt uns zwar, daß etwas so oder so beschaffen sei, aber nicht, daß es nicht anders sein könne. Findet sich also erstlich ein Satz, der zugleich mit seiner Notwendigkeit gedacht wird, so ist er ein Urteil a priori; ist er über dem auch von keinem abgeleitet, als der selbst wiederum als ein notwendiger Satz gültig ist, so ist er schlechterdings a priori. Zweitens: Erfahrung gibt niemals ihren Urteilen wahre oder strenge, sondern nur angenommene und komparative Allgemeinheit (durch Induktion), so daß es eigentlich heißen muß: so viel wir bisher wahrgenommen haben, findet sich von dieser oder jener Regel keine Ausnahme. Wird also ein Urteil in strenger Allgemeinheit gedacht, d. i. so, daß gar keine Ausnahme als möglich verstattet wird, so ist es nicht von der Erfahrung abgeleitet, sondern schlechterdings a priori gültig. Die empirische Allgemeinheit ist also nur eine willkürliche Steigerung der Gültigkeit von der, welche in den meisten Fällen, zu der, die in allen gilt, wie z. B. in dem Satze: alle Körper sind schwer; wo dagegen strenge Allgemeinheit zu einem Urteile wesentlich gehört, da zeigt diese auf einen besonderen Erkenntnisquell desselben, nämlich ein Vermögen des Erkenntnisses a priori. Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit sind also sichere Kennzeichen einer Erkenntnis a priori und gehören auch unzertrennlich zueinander. (…) Daß es nun dergleichen notwendige und im strengsten Sinne allgemeine, mithin reine Urteile a priori im menschlichen Erkenntnis wirklich gebe, ist leicht zu zeigen. Will man ein Beispiel aus Wissenschaften, so darf man nur auf alle Sätze der Mathematik hinaussehen; will man ein solches aus dem gemeinsten Verstandesgebrauche, so kann der Satz, daß alle Veränderung eine Ursache haben müsse, dazu dienen.“
Zeigt er das wirklich, „daß es nun dergleichen (…) reine Urteile a priori im menschlichen Erkenntnis wirklich gebe“? Was er zeigt, ist dass sie gedacht werden können, mehr nicht. Dass jede Veränderung eine Ursache hat, kann man denken und kann man voraussetzen, … wenn man möchte. Es dürfte kaum schwerer fallen, a la Lapace wie über Gott zu sagen: 'Ursache? Ich habe diese Hypothese nicht bedurft'. Ursache: nichts als eine metaphorische Redensart.
Proust gegen Kant
Ein ganz anderes Beispiel. Es freut mich, wieder einmal daran zu erinnern. Und diesmal geht es nicht um die Relativitätstheorie, sondern um Prousts kleine Kuchen, um seine »Petites Madeleines«: Es geht um die Einheit, es geht darum, ob sich so etwas wie Einheit erleben lässt. Proust tritt dabei als Zeuge seiner selbst auf und führt einen Beweis durch im wesentlichen zwei Berichte. Natürlich sind diese beiden Berichte literarische Erzählungen, also Erfindungen. Kann man mit Erfindungen irgendetwas bezeugen? Da sind wir ganz nah bei Kant. Seine Behauptung: Es gibt nur eine Erfahrung, und zwar qua einer einheitsstiftenden geistigen Leistung, ist im Grunde das gleiche, die Behauptung, dass Realität durch eine phantastische geistige Leistung, durch eine permanente geistige Neuschöpfung zustandekommt. Aber Kants Verstand steht da wie ein Luther vor dem Kaiser. Er kann nicht anders. Er ist autonom, indem er genau diese eine Form hat, die er hat! Das ist allerdings bei dem Erleben, das Prousts Berichte lebendig werden lassen, völlig anders. Sie hätten nichts gekonnt und hätten keinerlei Form gewonnen ohne dies kleine in Tee getauschte Stück Kuchen. Normalerweise würde man fordern, dass sich, was ein Zeuge sagt, durch Spuren untermauern lassen sollte, durch Spuren in der realen Außenwelt. Wenn nun jemand von seinem Erleben berichtet, wird man leicht in Verlegenheit sein, solche stützenden Spuren vorweisen zu können, Spuren, die dafür sprechen, dass das Erzählte keine reine Erfindung zu irgendeinem vielleicht verborgenen Zweck ist, den uns der Erzähler vorenthält so wie ein Zeuge, der lügt.
Mitunter werden Aussagen durch Spuren gelegt. Das ist in der Beweiswürdigung immer zu prüfen. So etwas wie eine ordentliche posttraumatische Belastungsstörung, das ließe man vielleicht gelten. Aber selbst das hat lange gedauert, bis sich die Psychiatrie darauf eingelassen hat. Authentische Spuren passieren, sie werden nicht erfunden. Spuren sind eine Art von Verbindung, die eben gerade nicht autonom hergestellt sein soll. Das Motiv der »Petites Madeleines« dient jedoch als Klammer der gesamten Suche nach der verlorenen Zeit. Die beiden kurzen Schlüsselerzählungen tauchen einmal ganz am Anfang des Romans auf, in der Kindheit in Combray und einmal fast ganz am Ende, auf dem Hof des Guermantesschen Palais Jahre später. Weil es sich um ein wunderbares Stück Literatur handelt, hier die beiden Passagen in voller Länge. Zuerst die frühe:
„Viele Jahre lang hatte von Combray außer dem, was der Schauplatz und das Drama meines Zubettgehens war, nichts mehr für mich existiert, als meine Mutter an einem Wintertag, an dem ich durchfroren nach Hause kam, mir vorschlug, ich solle entgegen meiner Gewohnheit eine Tasse Tee zu mir nehmen. Ich lehnte erst ab, besann mich dann aber, ich weiß nicht warum, eines anderen. Sie ließ daraufhin eines jener dicklichen, ovalen Sandtörtchen holen, die man »Petites Madeleines« nennt und die aussehen, als habe man als Form dafür die gefächerte Schale einer Jakobs-Muschel benutzt. Gleich darauf führte ich, ohne mir etwas dabei zu denken, doch bedrückt über den trüben Tag und die Aussicht auf ein trauriges Morgen, einen Löffel Tee mit einem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine darin an die Lippen. In der Sekunde nun, da dieser mit den Gebäckkrümeln gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Es hatte mir mit einem Schlag, wie die Liebe, die Wechselfälle des Lebens gleichgültig werden lassen, seine Katastrophen ungefährlich, seine Kürze imaginär, und es erfüllte mich mit einer köstlichen Essenz; oder vielmehr: diese Essenz war nicht in mir, ich war sie selbst. Ich hatte aufgehört, mich mittelmäßig, zufallsbedingt, sterblich zu fühlen. Woher strömte diese mächtige Freude mir zu? Ich fühlte, daß sie mit dem Geschmack des Tees und des Kuchens in Verbindung stand, daß sie aber weit darüber hinausging und von ganz anderer Wesensart sein mußte. Woher kam sie mir? Was bedeutete sie? Wo konnte ich sie fassen? Ich trinke einen zweiten Schluck und finde nichts anderes darin als im ersten, dann einen dritten, der mir etwas weniger davon schenkt als der vorige. Ich muß aufhören, denn die geheime Kraft des Trankes scheint nachzulassen. Es ist ganz offenbar, daß die Wahrheit, die ich suche, nicht in ihm ist, sondern in mir. Er hat sie dort geweckt, kennt sie aber nicht und kann nur auf unbestimmte Zeit und mit ständig schwindender Stärke seine Aussage wiederholen, die ich gleichwohl nicht zu deuten weiß und die ich wenigstens wieder von neuem aus ihm herausfragen und unverfälscht etwas später zu meiner Verfügung haben möchte, um eine entscheidende Erleuchtung daraus zu schöpfen. Ich stelle die Tasse ab und wende mich meinem Geist zu. Er muß die Wahrheit finden. Doch wie? Eine schwere Ungewißheit tritt ein, so oft der Geist sich von sich selbst überfordert fühlt, wenn er, der Forscher, zugleich das dunkle Land ist, das er erforschen muß und wo sein ganzes Gepäck ihm nichts nützt. Erforschen? Nicht nur das: Erschaffen. Er steht vor einem Etwas, das noch nicht ist, das nur er wirklich werden lassen und dann in sein eigenes Licht rücken kann.“14
Und sogleich die späte Passage:
„Versunken noch in die trübseligen Gedanken, von denen ich eben sprach, war ich in den Hof des Guermantesschen Palais eingetreten und hatte in meiner Zerstreuung nicht bemerkt, daß ein Wagen sich näherte; beim Ruf des Chauffeurs hatte ich gerade noch Zeit, rasch zur Seite zu springen. Ich wich so weit zurück, daß ich unwillkürlich auf die ziemlich schlecht behauenen Pflastersteine trat, hinter denen eine Remise lag. In dem Augenblick aber, als ich wieder Halt fand und meinen Fuß auf einen Stein setzte, der etwas weniger hoch war als der vorige, schwand meine ganze Mutlosigkeit vor dem gleichen Glücksgefühl, das mir zu verschiedenen Epochen meines Lebens einmal der Anblick von Bäumen geschenkt hatte, die ich auf einer Wagenfahrt in der Nähe von Balbec wiederzuerkennen gemeint hatte, ein andermal der Anblick der Kirchtürme von Martinville oder der Geschmack einer Madeleine, die in Tee getaucht war, sowie noch viele andere Empfindungen, von denen ich gesprochen habe und die mir in den letzen Werken Vinteuils zu einer Synthese miteinander verschmolzen schienen. Wie in dem Augenblick, in dem ich die Madeleine gekostet hatte, waren alle Sorgen um meine Zukunft, alle Zweifel meines Verstandes zerstreut. Die Bedenken, die mich eben noch wegen der Realität meiner literarischen Begabung, ja der Literatur selbst befallen hatten, waren wie durch Zauberschlag behoben. Ohne daß ich irgendeine neue Überlegung angestellt oder irgendein entscheidendes Argument gefunden hätte, hatten die soeben noch unlösbaren Schwierigkeiten alles Gewicht verloren. “15
...und etwas später abschließend:
„Ich glitt sehr rasch über all das hinweg, denn weit zwingender rief mich die Aufgabe, den Grund jenes Glücks, jener Art von Gewißheit zu suchen, mit der sie sich aufdrängte, eine Suche, die ich früher stets verschoben hatte. Dieser Grund nun begann sich mir zu offenbaren , wenn ich jene beseligenden Eindrücke untereinander verglich, denn sie hatten untereinander gemeinsam, daß ich das Geräusch des Löffels an dem Teller, die Ungleichheit der Bodenplatten oder den Geschmack der Madeleine zugleich im gegenwärtigen Augenblick und in einem entfernten Augenblick wahrnahm, und zwar in einem Maße, daß die Vergangenheit auf die Gegenwart übergriff und ich nicht mehr mit Bestimmtheit wußte, in welcher von beiden ich mich befand; in Tat und Wahrheit war es so: Das Wesen, das dann in mir diesen beglückenden Eindruck empfand, empfand ihn darin, was dieser zu einem früheren Zeitpunkt und jetzt an Gemeinsamem hatte, darin, was er an Außerzeitlichem hatte; es war ein Wesen, das nur dann in Erscheinung trat, wenn es aufgrund einer solchen Identität zwischen Gegenwart und Vergangenheit in das einzige Lebenselement versetzt wurde, in dem es existieren und die Essenz der Dinge genießen konnte, das heißt außerhalb der Zeit. Dadurch erklärte sich, daß meine Sorgen um meinen Tod in dem Augenblick ein Ende gefunden hatten, in dem ich unbewußt den Geschmack der kleinen Madeleine wiedererkannte; denn in diesem Augenblick war das Wesen, das ich gewesen war, ein außerzeitliches Wesen und stand daher den Wechselfällen der Zukunft unbesorgt gegenüber. Es lebte nur von der Essenz der Dinge; diese aber konnte es in der Gegenwart nicht erfassen, in der die Imagination nicht zum Zuge kommt; selbst die Zukunft, auf die jedes Handeln hinzielt, enthält sie uns vor. Dieses Wesen hatte mich immer nur außerhalb des Handelns und unmittelbaren Genießens aufgesucht, es hatte sich immer dann manifestiert, wenn das Wunder einer Analogie mich der Gegenwart enthob. Als einziges hatte es die Macht, mich die früheren Tage, die verlorene Zeit, wiederfinden zu lassen, während die Bemühungen meines Gedächtnisses und meines Verstandes dabei immer scheiterten.“
Ist es wirklich so schrecklich, wenn Gewissheit zufällig ist, wie Kant meint? Wenn sie den Geschmack eines Stück Kuchens oder den Klang der Marseillaise annimmt wie in Ricks Cafe? Und die Zeit? Ruht die Relevanz, die wir ihr zusprechen, nicht gerade auf der Möglichkeit, dass sie bei den unscheinbarsten Gelegenheiten in unserem Erleben gleichsam in sich selbst zusammenklappen und sich in Glück auflösen kann oder in Tod? Und ist solch ein Kollaps der Zeit möglicherweise die einzige Möglichkeit, die Zeit 'wiederzufinden'?16
Was davon müssen wir als Beweis gegen Kant gelten lassen? Meiner Meinung nach macht Kant mit seinem Einheitsbegriff eine unzulässige Äquivokation, wenn er ihn auf die Mathematik einerseits und auf die gedächtnisgeschwängerte Erfahrung andererseits anwendet. Er benennt zwei Sachverhalte gleich, die alles andere als gleich sind. Einheit der Erfahrung ist eine ganz andere Art von Einheit, wenn es denn überhaupt eine ist, als die Einheit, die man in der Mathematik voraussetzen muss, um zählen zu können.17
Nach Kants Kritik kann man so etwas wie eine einzig überzeugende Form richtigen Denkens immer noch denken. Um an dieser Vorstellung zu rütteln war mehr nötig als Kant. Kant war ganz im Gegenteil ihr Verteidiger mit der nachhaltigsten Wirkung. Der Gegensatz von Rationalisten und Empiristen bleibt letztlich durch ihn unüberwunden. Der Einheitsgedanke bleibt die gleiche heilige Kuh, die sie vor ihm auch bereits war. Humes Verzicht auf absolute Gewissheit hat sich allerdings inzwischen bis in die Mathematik herumgesprochen. Prousts literarische Wiederentdeckung der Gewissheit in einer Art Gedächtnis der Sinne jenseits der aus Kants Sicht für jede Erfahrung notwendigen Anschauungsform Zeit hat es möglicherweise nicht bis in das Set an Vorstellungen geschafft, aus dem sich heute 'verständige Menschen' selbst verstehen.
Analogien – die regellose Produktion der Unterschiede
Ein prominenter Austragungsort der Diskussion um das Einheits-Apriori als vermeintliche Voraussetzung jedes konsistenten Denkens war in der Philosophie der Begriff der Analogie.
Bei Analogien ist die Verschiedenheit der Analoga unübersehbar. Analogien sind Annäherungsversuche von Sachverhalten, die sich standhaft dagegen sperren, vollends in eins zu fallen, die aber offenbar grandiose Denkleistungen möglich machen, indem sie das Denken in einem nie endenden Fluss von Vielfalt halten. Douglas R. Hofstädter beschreibt das einmal sehr schön:
„Jeder Begriff in unserem Denken verdankt seine Existenz einer langen Abfolge von Analogien, die im Lauf der Jahre unbewusst entstanden sind, die bereits dazu geführt haben, dass der Begriff entstanden ist, und die ihn im Lauf unseres Lebens fortwährend bereichern. Außerdem erhalten in jedem Augenblick unseres Lebens unsere Begriffe Anstöße von Analogien, die das Gehirn – indem es sich bemüht, sich mithilfe des Alten und Bekannten das Neue und Unbekannte zu erschließen – pausenlos herstellt.“18
Das scheint mir ziemlich zutreffend, wenn man einmal von der albernen Analogie absieht, dass das Gehirn 'sich bemüht'19 und wenn man ihm nachsieht, dass mal wieder kein Unterschied zwischen Gehirn und Geist gemacht wird. Das Buch von Hofstädter, aus dem das Zitat stammt war übrigens in seiner englischen Version 'Fluid Concepts and Creative Analogies: Computer Models of the Fundamental Mechanisms of Thought' das erste Buch, das Jeff Bezos im Juli 1995 auf seiner soeben neu gegründeten Internetplattform zum Verkauf anbot. Es steht also ganz am Anfang des wirtschaftlichen Erfolgs von Amazon, einer inzwischen ziemlich globalen Analogie-Maschine.
Das Geschäftsmodell von Amazon scheint mir nicht schlecht den riesigen Abstand vom Einheits-Apriori eines Plotin zu verdeutlichen. Amazon funktioniert gerade durch unbegrenzte Diversität des Angebots. Nichts darf wie das andere sein. Aber alles muss leicht zu verstehen sein. Man sollte nicht dauernd nachfragen müssen, alles sollte sich in genügend Hinsichten ähneln. Dennoch sollte der Kunde keinerlei Risiken eingehen müssen. Gewissheit sollte trotz Diversität bestehen bleiben. Falls jemand das Bedürfnis nach Einheit entwickelt, sollte man ihm 'seine Welt' anbieten, etwa dadurch, dass seine früheren Wünsche bekannt sind und man ihm die Produkte gleich so anbietet, dass er nicht lange suchen muss. Aber auf keinen Fall sollte man ihm eine bestimmte Einheit aufdrängen, wie Religionsgemeinschaften aber auch wissenschaftliche Schulen das heute immer noch regelmäßig tun. Dass etwas möglichst immer gleich oder wenigstens ziemlich ähnlich funktioniert, scheint wesentlich wichtiger geworden zu sein als substantielle Einheit. Akzidentielle Einheit bei essentieller Verschiedenheit sozusagen. Man kann die alten Begriffe heute wohl so gebrauchen, wenn man sie denn noch brauchen würde.
Wenn dann doch Amazon selbst als Einheit beschreibbar ist, dann – um auch hier bei einer Analogie zu bleiben – eher wie eine Art Ballon, der sich immer weiter aufblasen lässt, ohne zu platzen (bisher jedenfalls) oder als Einheit im Sinne eines mathematischen Axiomsystems. Wenn man die Einfachheit der Axiome der Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre (ZF) bedenkt, die im Ruf steht, Beweisgrundlage der gesamten Mathematik zu sein, ist eigentlich unverständlich, warum sich die Geschichte der Mathematik nicht in ein paar Jahrhunderten komplett abwickeln lässt. Nichts, aber auch rein gar nichts verrät, welche Ausdehnung und vor allem welche logische Komplikation mathematische Problemstellungen im weiteren Verlauf noch erreichen werden. Es scheint keinen Einheitsbegriff zu geben, der dem Denken nicht irgendwann um die Ohren fliegt, wenn man ihn in Anspruch nimmt. Für die Mathematik hat das Karl Gödel mit seinen Unvollständigkeitssätzen gezeigt, in der Physik Max Planck mit der Unschärferelation (dem 'Wirkungsquantum', jener Un-Einheit, aus der gerade kein Sein entspringt, sondern Unschärfe). Wenn man etwa an die Geschichte der Kosmologie denkt, wird man zugestehen müssen, dass die Entwicklung von Naturwissenschaften und der Mathematik die Einheitsvorstellungen von einem unveränderlichen sphärischen Universum des Mittelalters zu einem modernen expandierenden Universum natürlich völlig verändert haben. Natürlich war neu zu denken, was noch unter Einheit des Kosmos, des Universums oder der Welt zu verstehen sein könnte. Einheit scheint im Lauf der Zeit von einem ersten zu einem letzten Begriff verrückt worden zu sein, in jedem Fall zu etwas, dass durch alle Disziplinen hindurch enorme Anstrengungen erfordert, wenn man darauf besteht.
Aber bleiben wir noch einen Augenblick bei Analogien und Metaphern und ihrem Beitrag auf der Haben-Seite des Denkens.
Analogiebildung ist ein Vergleichsverfahren, das Merkmalsvermutungen nahelegt.
Der Gegenstand A habe die Merkmale a,b, c und d.
Der Gegenstand B habe die Merkmale a,b, aber nicht d.
Dadurch, dass A die Eigenschaft d hat, der Gegenstand B jedoch nicht, ist klar, dass A und B nicht identisch sein können. Ein Beobachtungsgegenstand kann mit einem anderen nicht zugleich identisch und ähnlich sein.20 Dass beide Gegenstände die Merkmale a und b haben, macht sie nun allerdings zu ähnlichen Gegenständen. Vermutet wird von daher, dass Gegenstand B das Merkmal c tragen könnte. Das wäre die Denkanregung, ist dann allerdings erst noch zu prüfen. Sie kann zutreffen oder nicht.
So beschrieben scheint es, als haben Analogien keinerlei eigenständigen Wert für das Wissen, bevor die Vermutung, die durch eine Analogie angeregt wird, nicht eigens geprüft wurde. Man weiß eben ungeprüft nicht, ob Gegenstand B das Merkmal c hat. Man weiß letztlich nicht einmal, ob es überhaupt die Möglichkeit hätte, Merkmal c zu tragen. Zunächst ist ja selbst das nicht mehr als eine implizite Behauptung dessen, der eine Analogie bemüht. Es kommt also alles auf die Prüfung an. Analogien sind aus logischer Sicht also eine äußerst vage Angelegenheit. Wären sie nur das, dann hätte analogisches Denken im Diskurs nie eine Chance gehabt.
Analogien müssen also ihre Geltung anders gewinnen. Was ist, wenn nur geprüfte Urteile Wert für das Wissen haben und also vermeintlich alles auf die Prüfung ankommt, bestimmte Prüfungen aber ad hoc gar nicht möglich sind? Ad hoc mögliche Prüfungen wären Prüfungen durch den Augenschein oder durch Plausibilität. Nur sind Analogien ja bereits durch genau die Augenscheinprüfung hindurchgegangen und haben sie bestanden. Sie sind ja bereits plausibel. Das Ergebnis war ja gerade, dass eine Analogie von A und B entdeckt wurde. Es wurde hingeschaut. Die Prüfung, die noch fehlt, ist also mit Sicherheit keine, die sich ohne weiteres ad hoc beibringen lässt. Kein Denken wird jetzt so lange eine Pause einlegen und nichts denken, bis die fehlende Prüfung beigebracht ist. Ganz im Gegenteil. Wir bewegen uns ständig ziemlich erfolgreich auf Feldern unvollständig geprüfter Analogien, also von Merkmalsübertragungen, zu denen wir logisch letztlich nicht berechtigt sind. Wir sprechen gewöhnlich genau dann von Metaphern, davon, dass Ausdrücke von einem Bedeutungszusammenhang in einen anderen übertragen werden, ohne dass das Wissen davon verloren geht, dass es ein anderer Zusammenhang ist. Ganz im Gegenteil, je vertrauter wir mit der Verwendung von Metaphern im Lauf der Geschichte geworden sind, je sicherer wurde unser Netz von Unterscheidungen. Der Ausdruck Analogie hebt stärker ab auf die logische Berechtigung, der Ausdruck Metapher stärker auf die tatsächliche Übertragung. Wenn man sich vor Augen hält, wie sehr wir heute daran gewöhnt sind, Differenzen erst dann gelten zu lassen, wenn wir sie durch unser kategoriales Gitter von Qualitäten und allfällige Quantifizierung hindurch gejagt haben, muss überraschen, wie wir bereits einige Jahrtausenden länger und parallel bis heute durch Analogiebildung auch wenn es sein muss ganz ohne Kategorisierung und Mathematik an ziemlich verlässliche Differenzen kommen. Damit stellt sich die Frage, ob die logische Berechtigung nicht vielleicht die tatsächliche Übertragung voraussetzt. Die Behauptung, dass A und B identisch sind, also A=B hat letztlich nie einen empirischen Gehalt. Und wenn es nur Selbstidentität meint A=A, dann bestimmt es nichts. Der logische Wert der Bestimmung A=B ist ein axiomatisch formaler.21 Physikalisch empirisch ist die Frage der Identität von A und B eine Frage davon, in welchem Maßstab welche Gegenstandsmerkmale bei welcher Fehlertoleranz gemessen werden. Wenn sich im Vergleich zweier Gegenstände keine Unterschiede erkennen lassen, dann gelten sie als gleich. Das hängt offenbar neben der Feinheit der Messung, auf die die Naturwissenschaften schauen, ab von der Feinheit der Parameter, der möglichen Unterschiede. Es reicht nicht, wenn zwei Objekte mit 120 km/h durch die Innenstadt rasen um zu behaupten, dass sie gleich sind. Der erste könnte der Gangster sein, der zweite die Polizei. Es fehlen etliche Parameter zu solch einer Behauptung. Falls zwei Elementarteilchen mit Lichtgeschwindigkeit durchs Universum jagen, wird es sich allerdings wohl bei beiden um Photonen handeln. Um diese Vermutung zu präzisieren, wird man Physiker fragen können, und sie werden uns mit erstaunlich wenig zusätzlichen Parametern helfen können. In der mesoskopischen Menschenwelt besteht jedenfalls keinerlei Chance, ohne Analogien und Metaphern, die die Dinge in ständigen Denken, Sprechen, Verwenden und Verteilen durchaus im strengen Sinn ziemlich ungeprüft zusammenrücken und auseinandertreiben an ein Gerüst empirisch tragfähiger Unterschiede und Identitäten zu kommen. Ein hinreichend dichtes Kategoriengitter gibt es nicht.
Welt-Modelle, die die Welt nicht brauchen
Wir verwenden normalerweise den Begriff Welt, um damit alles zu bezeichnen, was ist. Dabei gehen wir davon aus, dass das, was ist, nicht auf das beschränkt ist, was uns bekannt ist. Würden wir ernsthaft behaupten, das das, was ist, nicht mehr ist als das, was wir kennen, würde uns jede neue Entdeckung widerlegen. Und weil wir das ständig erleben, behauptet das natürlich auch niemand. Aber woher wissen wir andererseits, dass in der Wundertüte des noch nicht Entdeckten immer noch ein weiteres Bonbon steckt? Dass die Tüte irgendwann leer sein könnte und dass da nichts unbekanntes Neues mehr sein könnte, ist eine wenn auch äußerst unwahrscheinliche Möglichkeit. Man stelle sich die Verblüffung vor, wenn da plötzlich nichts mehr wäre. Vermutlich ist diese Vorstellung noch bei weitem erschreckender als die, vom Neuen erschlagen zu werden. Denn wir gehen davon aus, dass immer noch ein Rest an Zeit bleibt, sich dem Neuen zu stellen und es irgendwie zu bewältigen. Diese Chance fällt dem Nichts gegenüber flach.
Dieses Alles was ist ist also eine ausgesprochen offene, durchaus verstörende Angelegenheit. Was bezeichnet dabei der Ausdruck Welt? Eine offene, unkontrollierbare Vielheit oder eine Totalität, also die singuläre, irgendwie überschaubare und kontrollierbare Allheit des Vielen? Wenn es das zweite sein soll, sollte sich angeben lassen, was vom Neuen wodurch Zugang zu dieser Allheit bekommen soll. Andernfalls würde man doch wieder fälschlich behaupten, die Welt reduziere sich auf das Bekannte. Wer von Totalität spricht, nimmt einen imaginären Ort an, von dem aus sich eine Vielheit als Allheit überschauen lässt, wo es keine Vielheiten außerhalb der Allheit mehr gibt. Wenn ein solcher Ort nicht denkbar ist, wird der Begriff Totalität einigermaßen sinnlos. Ein solcher Ort war geistesgeschichtlich als Ort Gottes denkbar. Aufgeklärte Wissenschaften gehen dagegen davon aus, dass sie nicht die Instanz sind, die diesen Ort besetzen könnte, der mithin nur noch als Ideal oder infinitesimale Grenze gedacht wird. Die Instanz könnte nur eine sein, für die nichts Neues auftaucht. Als eben das verstehen sich die empirischen Wissenschaften gerade nicht. Sie bestehen ganz im Gegenteil auf Falsifizierbarkeit, auf der Möglichkeit von Erfahrung oder was das selbe ist, auf der Möglichkeit des Neuen, das mitten im Bekannten auftauchen kann und muss.
So weit so klar. Was mir problematisch erscheint, ist dann allerdings, um es noch einmal zu sagen, das Beharren darauf, dass über rationale Verfahren des Begründens (theoretische Rationalität) und rationale Verfahren des Umgangs mit Sachverhalten (praktische Rationalität), in einem Wort über Rationalität nur im Singular gesprochen wird. Ist sie da nicht wieder? Die selbe uneinnehmbare Position gegenüber dem Neuen?
Die unwiderstehliche
Schönheit des Vereinfachens
und der Pluralismus der
Vorhersage
Naturwissenschaften sehen sich auf den Singularitätsgedanken nicht mehr unbedingt angewiesen. Für das kosmologische Standardmodell z.B. ist die Einfachheit nicht mehr eine Eigenschaft der Welt, sondern eine Modelleigenschaft. Setzen wir uns eine Weile in einen imaginären Kosmologie-Hörsaal, in dem es am Ende zu einer erkenntnistheoretischen These kommt:
„Das kosmologische Standardmodell ruht auf einem Fundament aus drei Annahmen und gewinnt seine statische Zuverlässigkeit durch die Evidenz zahlreicher Beobachtungen. Die allgemeine Relativitätstheorie steckt den Rahmen ab; die zwei Symmetrieannahmen räumlicher Homogenität und Isotropie erlauben darin die Konstruktion der ganzen Klasse kosmologischer Friedmann-Modelle. In einem gut begründbaren Sinn ist die allgemeine Relativitätstheorie die einfachste mögliche metrische Theorie der Gravitation. Was sollte ein Modell, das auf derart einfachen Annahmen beruht, mit dem Universum zu tun haben, in dem wir uns befinden? Es ist das erstaunliche Ergebnis vor allem der letzten etwa zwei Jahrzehnte kosmologischer Forschung, dass sich unser beobachtbares Universum auf ganz erstaunliche Weise in dieses Modell einfügt. Der grundlegendste empirische Befund ist die kosmische Expansion, die in unserer kosmischen Nachbarschaft durch das Hubble-Lemaître-Gesetz der Galaxienflucht zum Ausdruck kommt. Diese Expansion entspricht der Instabilität der Friedmann-Modelle. Obwohl theoretisch möglich, sind solche Friedmann-Modelle durch einfache Beobachtungen ausgeschlossen, die eine anfängliche Singularität und damit einen heißen, dichten Anfangszustand vermeiden können. Der kosmische Mikrowellenhintergrund bestätigt auf eindrucksvolle Weise, dass das Universum tatsächlich eine heiße Anfangsphase durchlaufen haben muss. Die Häufigkeiten leichter Elemente im Universum, besonders des Heliums und des Deuteriums, belegen, dass das gesamte Universum kurz nach seiner Entstehung etwa zwei Minuten lang als Fusionsreaktor gewirkt hat. Zusammen mit den heute im Universum beobachteten Strukturen zeigen die bereits im kosmischen Mikrowellenhintergrund angelegten Strukturen, dass bei Weitem die meiste Materie im Universum von einer uns unbekannten Form sein muss, die nicht mit Licht wechselwirken kann. Wenn wir solche dunkle Materie akzeptieren, insbesondere ihre kalte Variante, wird die Entwicklung kosmischer Strukturen erklärbar. Die kosmologische Inflation bietet eine Begründung dafür an, wie kosmische Strukturen überhaupt entstanden sein können: Sie führt die heutigen Strukturen auf Vakuumfluktuationen eines Quantenfeldes im frühen Universum zurück. Obwohl wir nicht wissen, woraus die dunkle Materie besteht, erlauben uns Beobachtungen insbesondere der räumlichen Galaxienverteilung und des Gravitationslinseneffekts, die Menge und die räumliche Verteilung der dunklen Materie zu bestimmen.Wo sie ist und wie viel es davon gibt, wissen wir recht genau; ihre Natur kennen wir nicht. Auch hier wird die einfachste Hypothese bestätigt: Bisher gibt es keinen wirklich stichhaltigen Widerspruch zur Annahme kalter dunkler Materie. Helle Quellen, insbesondere Supernovae vom Typ Ia, ermöglichen es uns, die kosmische Expansionsrate über mehr als die Hälfte der kosmischen Geschichte zu rekonstruieren. Dies zeigt, dass sich das Universum seit etwa sieben Milliarden Jahren beschleunigt ausdehnt. Warum es das tut, wissen wir letztlich nicht; wir schreiben diese beschleunigte Expansion einer Substanz mit negativem Druck zu, die wir dunkle Energie nennen. Hier schließt sich aber der Kreis: Beobachtungen des kosmischen Mikrowellenhintergrundes zeigen, dass das Universum räumlich flach ist. Mit seiner recht geringen Materiedichte, sichtbar und dunkel zusammengenommen, könnte es das nicht sein. Die dafür fehlende Energiedichte entspricht genau der, auf die wir aufgrund der beschleunigten Expansion schließen können. Aus einer wissenschaftsphilosophischen Sicht geschieht im kosmologischen Standardmodell etwas Bemerkenswertes: Gerade aufgrund seiner Einfachheit, insbesondere aber auch wegen der überwältigenden Evidenz, die es unterstützt, gewinnt das kosmologische Standardmodell eine starke Überzeugungskraft. Deswegen sind wir eher dazu geneigt, die vielleicht abenteuerlich wirkenden Schlussfolgerungen zu akzeptieren, dass es dunkle Materie, dunkle Energie und möglicherweise eine frühe inflationäre Phase gegeben haben muss, als dass wir die Einfachheit der Annahmen aufzugeben bereit wären. Sind wir damit an einem Ende angekommen? Keineswegs, im Gegenteil: Wir haben eine sichere Grundlage gewonnen, vor deren Hintergrund wir weiterfragen können. Empirische Daten werden uns gerade in den nächsten Jahren nicht fehlen; sie werden uns überschwemmen. Was uns bisher fehlt, sind überzeugende Ideen, wie das Standardmodell erweitert werden könnte, ohne seine Vorzüge aufzugeben.“22
Es besteht schon die Vorstellung, dass das Standardmodell ein Modell des ganzen Universums in einem ähnlichen Sinn ist, wie der Stadtplan von Hamburg ein Modell der Stadt Hamburg ist. Ob der Stadtplan diesem Anspruch genügt, würde man merken, wenn man sich am Stadtplan orientiert in der Stadt zurechtfindet. Wenn er bei der Orientierung hilft, dann gerade wegen seiner epistemologischen Einfachheit, wegen seiner Beschränkung auf das für die Orientierung Wesentliche, wegen seiner besseren Übersichtlichkeit, als die Stadt selbst aufweist. Aber am Standardmodell, so Bartelmanns Beschreibung, mit der er ganz und gar nicht allein ist, wird nicht festgehalten, weil man damit gut durchs Universum kommt, sondern weil die Grundannahmen schön, weil einfach sind. Gaßner beschreibt23, dass das Standardmodell u.a. auf der allgemeinen Relativitätstheorie Einsteins aufsetzt und dass die Annahmen von Isotrophie und Homogenität in der Kosmologie letztlich Vereinfachungen darstellen, um der Unlösbarkeit der Feldgleichungen für konkrete Problemstellungen zu entgehen. D.h. Isotrophie und Homogenität sind einfach ein Sonderfall, bei dem die Feldgleichungen aufgehen. Es handelt sich um Vereinfachungen, die einfach deshalb gemacht werden, um Lösbarkeit herzustellen im Wissen, dass sie streng genommen falsch sind. Ein interessanter, nicht einmal seltener Sonderfall: aus freien Stücken und bewusst einen Fehler machen. Ich bin kein Mathematiker und habe keine Gründe, diese Erklärung nicht zu akzeptieren. Demnach führt hier der Fehler zur Lösbarkeit, sprich Schönheit.
Einfachheit gilt hier nicht wegen ihrer epistemologischen Qualität, sondern als ästhetische Qualität.24 Zwei Beispiel, die den Sinn für die ästhetische Schönheit mathematischer Strukturen befriedigen, die immer wieder angeführt werden: die Eulersche Identität eiπ+1=0 . Sie zeigt den bestechend einfachen Zusammenhang zwischen den vier bedeutendsten Konstanten der Mathematik. Und eine empirische Entdeckung im Feld der Mathematik, die Jacobi-Madden-Gleichung. Sie bringt eine Lösung für eine Vermutung Eulers, dass es möglich sein sollte, vier 4. Potenzen zu finden, deren Summe eine 4. Potenz ergibt, für die also gilt: a4+b4+c4+d4=(a+b+c+d)4.
Eine erste Lösung wurde 1911 auch wirklich durch R. Norrie gefunden. 2008 wurde dann von Lee W. Jacobi und Daniel J. Madden gezeigt, dass die Vermutung unendlich viele positive ganzzahlige Lösungen hat. Und sogar eine besonders ästhetische wurde entdeckt, bei der nicht nur a4+b4+c4+d4=(a+b+c+d)4 zutraf, sondern darüber hinaus auch noch a+b+c+d=(a+b+c+d)
- 9554 + 17704 + ( − 2634 )4 + 54004 = 54914 und zugleich 955 + 1770 − 2634 + 5400 = 5491
Solche Vorlieben für ästhetische Modelleigenschaften zeigen Mathematiker und Physiker, aber ebenso auch Philosophen und Wissenschaftstheoretiker bereits, seit überhaupt erkenntnistheoretische Überlegungen formuliert werden. Damals bei Längenverhältnissen von Instrumentensaiten und schönen Klängen. So auch heute wieder. Räumliche Isotropie und Homogenität werden ihrer Einfachheit wegen, also dem Modell zuliebe behauptet und nicht als Eigenschaften des Universums. Jedes Modell ist einfacher als das, wofür es steht und damit je nachdem, was man wissen will, möglicherweise zu einfach. Wie gesagt: „Was sollte ein Modell, das auf derart einfachen Annahmen beruht, mit dem Universum zu tun haben, in dem wir uns befinden?“
Die erste Annahme ist, dass uns unser Universum bei geeigneter Mittelung als isotrop erscheint. Das bedeutet, dass beliebige Messungen mittlerer Eigenschaften unseres Universums, z. B. seiner mittleren Massendichte, in jeder Richtung denselben Wert ergeben. Die zweite Annahme ist, dass jedem anderen Beobachter im Kosmos das Universum als ebenso isotrop erscheint. Soll das für das 'ganze' Universum gelten? Nein, es soll für das Modell gelten und für den Bereich, der durch Messungen erfasst wird.
Es geht nun nicht darum, ob das Universum als eine Art abgebildetes Original die Eigenschaften Isotropie und Homogenität hat, sondern darum, ob unsere Beobachtungen mit unserer jeweiligen Modellvorstellung vereinbar sind. Beobachtung hat zudem immer weniger mit klassischer, sinnlicher Inaugenscheinnahme zu tun, sondern mit den sich sukzessiv entwickelnden Möglichkeiten der Messung von elektromagnetischen Wellen einerseits und mit dem sich parallel entwickelnden Möglichkeiten der Verarbeitung von Digitaldaten andererseits, hinter der wiederum andere Modelle ökonomischer Berechnung stehen, ob wie hier im Fall der Kosmologie, ob in der Kernforschung oder bei den bildgebenden Verfahren in der Medizin. Die Erwartung des Einen, Einfachen und Sparsamen erfüllt sich wenn überhaupt am Modell und nicht an einer dem Modell gegenüber transzendenten Wirklichkeit. Sie ist ästhetisch und regulativ. Was dessen reale Referenz angeht, würde ein Laplace heute vielleicht bemerken: „Die Einheitsvorstellung? Ich habe auch dieser Hypothese nicht bedurft. Schön sollte es sein!“
In soweit hat sich die Modellbildung von einer Abbildfunktion mehr oder weniger verabschiedet. Allerdings nicht völlig. Mit dem Transzendenten bleibt zu rechnen. Einem Laplace von heute wäre die Prognosefähigkeit des Modells vermutlich wichtiger als dessen Einheitlichkeit. Gut zu wissen wäre, ob ein bestimmter realer Vulkan kurz vor dem Ausbruch oder das Klima kurz vor einer irreversiblen Erwärmung steht. Dafür ist Modellvielfalt und die Multidimensionalität von Parametern nützlich, Vielfalt statt Einheit.25 Man sollte sie also besser zulassen.
Anmerkungen:
1 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, Vorrede zur 2. Ausgabe
2 Hegel, Phänomenologie des Geistes, Vorrede
3 David Hume, A Treatise of Human Nature 3.1.1.
4 Plotin, Enneaden, Neuntes Buch, Über das Gute oder das Eine
5 Die deutsche Ideologie. Marx/Engels, MEW 3, S. 35
6 KrV, transzendentale Ästhetik, § 1
7 KrV, Transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe, § 15 Von der Möglichkeit einer Verbindung überhaupt
8 KrV, Von der Einteilung der transzendentalen Logik in die transzendentale Analytik und Dialektik
9
(KrV.,
A 110, Transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe, 4.
Vorläufige Erklärung der Möglichkeit der Kategorien,
als Erkenntnissen apriori)
10 KrV, transzendentale Analytik
11 KrV, Von dem Leitfaden der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe
12 ebd.
13 KrV, Von der Unmöglichkeit des physikotheologischen Beweises
14 Marcel Proust, Unterwegs zu Swann, 1. Teil, Combray
15 Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit
16 Ich
erinnere mich an zwei erste Sätze, mit denen einmal eine
Novelle und einmal ein Roman beginnt, in denen schlagartig die Zeit
wiedergefunden wird, wenn auch ... ohne Kuchen, also sozusagen
spurlos. Das ist der erste Satz aus Kleists 'Das Erbeben in Chili':
„In St. Jago, der Hauptstadt des Königreichs Chili,
stand gerade in dem Augenblicke der großen Erderschütterung
vom Jahre 1647, bei welcher viele tausend Menschen ihren
Untergang fanden, ein junger, auf ein Verbrechen angeklagter
Spanier, namens Jeronimo Rugera, an einem Pfeiler des
Gefängnisses, in welches man ihn eingesperrt hatte, und wollte
sich erhenken.“
In diesem Augenblick also beginnt für
ihn die Zeit mit einem Kollaps.
… und der erste Satz
aus Gabriel García Márquez' 'Hundert Jahre
Einsamkeit':
„Viele Jahre später sollte der Oberst
Aureliano Buendía sich vor dem Erschießungskommando an
jenen fernen Nachmittag erinnern, an dem sein Vater ihn mitnahm, um
das Eis kennenzulernen.“
Und wieder kollabiert die Zeit.
17 Eine ähnliche Äquivokation liegt m.E. vor, wenn man gleichlautend von einem Irrtum spricht, wenn man Herrn Maier, der auf der anderen Straßenseite vorübergeht für Herrn Müller hält oder wenn man sich bei einer Addition verrechnet. Hier wendet man eine Regel warum auch immer nicht korrekt an, dort verwechselt man Maier mit Müller, wenn hier 1+1 zu 3 wird statt zu 2, hat man nicht 2 und 3 verwechselt, sondern eine Regel nicht korrekt angewandt.
18 Douglas R. Hofstädter: Die Analogie, Das Herz des Denkens, Prolog
19 Aristoteles hätte dazu zu bemerken gehabt, dass es gerade wegen des äußerst fruchtbaren Wildwuchses der Analogien darauf ankommt, das Durcheinander der Doppeldeutigkeiten zu ordnen. Um so interessanter ist es, woher das doch recht simple Werkzeug, mit der wir die Vieldeutigkeit der Analogie seiner Meinung nach ordnen, die Logik nämlich, ihre Dignität bezieht. Die 'Ordnung der Dinge' wird vorausgesetzt. Es ist, als brauche man in eine Welt von lauter bipolaren Gedankenkörnchen nur noch die Logik als eine Art Magneten hineinzuhalten, um alles zu ordnen.
20 Ein Grenzfall könnte man allerdings die Selbstähnlichkeit von Fraktalen auffassen. Aber natürlich ist auch da der mit dem Ganzen verglichene ähnliche Ausschnitt mit dem Ganzen nicht identisch.
21 Kant sagte dazu: „Im analytischen Urteile bleibe ich bei dem gegebenen Begriffe, um etwas von ihm auszumachen. Soll es bejahend sein, so lege ich diesem Begriffe nur dasjenige bei, was in ihm schon gedacht war (…). In synthetischen Urteilen aber soll ich aus dem gegebenen Begriff hinausgehen, um etwas ganz anderes, als in ihm gedacht war, mit demselben in Verhältnis zu betrachten, welches daher niemals weder ein Verhältnis der Identität noch des Widerspruchs ist und wobei dem Urteile an ihm selbst weder die Wahrheit noch der Irrtum angesehen werden kann.“ (KrV, Von dem obersten Grundsatze aller synthetischen Urteile)
22 Matthias Bartelmann, Das kosmologische Standardmodell, Grundlagen, Beobachtungen und Grenzen, Berlin 2019, S.271
23 Vgl. Josef M. Gaßner, Können wir die Welt verstehen? Frankfurt 2019, S.241
24 So hatte es Alexander Friedmann bereits 1922 abgelehnt, den auf der Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie entworfenen kosmologischen Modellen, die heute seinen Namen tragen und aus denen das heutige kosmologische Standardmodell stammt, eine physikalische Deutung zu geben. Er berief sich allein auf die mathematische Einfachheit, die ihn zu diesen Lösungen geführt hatte.
25 Wem
es Freude macht, sich von einem renommierten
amerikanischen Physiker und String-Theoretiker wie Michio Kaku
bis hin zu Erlösungsvorstellungen völliger
technischer Beherrschbarkeit der Dinge des Lebens ans Ende des 21.
Jahrhunderts entführen zu lassen, sei auf sein Buch Die
Physik der Zukunft, Unser Leben in 100 Jahren von
2011 hingewiesen. Er
erzählt uns von der Zukunft des Computers, der künstlichen
Intelligenz, der Medizin,der Nanotechnologie, der Energie und last
but not least des Wohlstands. Das alles gleichsam direkt vom seinem
Arbeitsplatz an einer New Yorker Universität.
Die
biologische Uhr ist außer Kraft gesetzt, mit dem Krebs besteht
Waffenstillstand, das Leben endet nicht mehr... All das gewürzt
mit einem nachdenklichen Gandhi-Zitat als allerletztes Wort: „Die
Wurzeln der Gewalt: Reichtum ohne Arbeit, Vergnügen
ohne Gewissen, Wissen ohne Charakter, Handel ohne Moral,
Wissenschaft ohne Menschlichkeit, Anbetung ohne Opfer, Politik ohne
Prinzipien.“
Die Weisheit ist grenzenlos. Harmonie und Einheit in Ewigkeit! Tod,
wo ist dein Stachel? Oh Grab, wo ist dein Sieg? Die Religion ist
zurück. Was für ein maßloser Kitsch!
Wer
keine Freude bei so etwas hat, der sei vor Büchern wie diesem
gewarnt.
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